Redner(in): Angela Merkel
Datum: 30.08.2006

Untertitel: am 30. August 2006 in Berlin
Anrede: Sehr geehrter Herr Sommer, meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/08/2006-08-30-bkin-jubilaeumsveranstaltung-30-jahre-mitbestimmungsgesetz,layoutVariant=Druckansicht.html


Ich habe die Einladung gerne angenommen, heute hier die Festrede anlässlich der Veranstaltung zum 30. Jubiläum des Mitbestimmungsgesetzes zu halten. Die Mitbestimmung? und das möchte ich zu Beginn ganz ausdrücklich sagen? ist ein wesentliches Element der Sozialen Marktwirtschaft. 30Jahre Mitbestimmungsgesetz ist deshalb eine stolze Zahl. Bevor wir von 100Jahren sprechen, sollten wir vielleicht erst einmal die 50Jahre ins Auge fassen. Aber man kann ja immer über den Tag hinaus denken. 30Jahre Mitbestimmungsgesetz sind wahrlich Grund für eine große Feier, wie sie auch heute hier in der Hans-Böckler-Stiftung abgehalten wird. Zu Beginn möchte ich einen kurzen Blick zurück wagen und die Geschichte der Mitbestimmung in Deutschland gleichsam im Zeitraffer rekapitulieren. Es gab bereits erste Anfänge der Mitbestimmung im 19. Jahrhundert. Interessanterweise wurden sie damals von den Gewerkschaften durchaus kritisch beäugt. Sie schienen damals ein bisschen zu fürchten, dass die Mitbestimmung als bewusst geschaffene Konkurrenz zu eigenen Organisationen gedacht gewesen sein könnte. Eigentlich war das ein interessanter Gedankengang. Ich möchte nicht sagen, dass man ihn zwischen Betriebsräten und Gewerkschaften heute auch noch findet, aber er war interessant. Aber diese Haltung änderte sich vollkommen nach dem Ersten Weltkrieg. Jetzt gaben die Gewerkschaften ihre Vorbehalte gegen gesonderte betriebliche Vertretungsorgane auf. Die Weimarer Reichsverfassung sah ein Recht der Arbeitnehmer auf gleichberechtigte Mitwirkung in bestimmten Bereichen vor, so z. B. bei der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen. Auch die Beteiligung von Arbeitnehmervertretern in Aufsichtsräten geht bereits auf die Weimarer Republik zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann der Gedanke der Sozialpartnerschaft in Westdeutschland ein völlig neues Gewicht. Sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber sprachen sich nach den schrecklichen Erfahrungen der Nazi-Diktatur für eine gesetzlich verankerte Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Betrieben aus. Nach zwei Jahren Diskussion? Herr Sommer hat eben darauf hingewiesen? beschloss die Bundesregierung unter der Verantwortung von Konrad Adenauer bereits 1951 die paritätische Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat in Montanunternehmen. Dieser Beschluss ging übrigens auch auf einen Beschluss? auch das ist eben hier gesagt worden; und wenn wir heute hier in der Hans-Böckler-Stiftung sind, sollten wir uns daran erinnern? zweier großer Männer zurück, nämlich Konrad Adenauer und Hans Böckler. Das war wirklich gelebte Klugheit in der Politik, wie ich rückblickend nur sagen kann. In seiner ersten Regierungserklärung vom 20. September 1949 machte Konrad Adenauer die große Bedeutung eines? ich zitiere? "verständigen sozialen Ausgleichs sozialer Gegensätze" für den Erfolg Deutschlands deutlich. Wenn man überlegt, dass dies in der ersten Regierungserklärung in der Gründungszeit der Bundesrepublik Deutschland erwähnt wurde, so waren diese Worte wirklich wegweisend. Sie kamen, wie man heute manchmal auch in Erinnerung rufen muss, aus dem Mund eines Christdemokraten. Manches, was heute an Schwarzmalerei betrieben wird, kann an solchen Stellen revidiert werden. Ein Jahr später beschloss die Regierung Adenauer das Betriebsverfassungsgesetz. Neben der betrieblichen Mitbestimmung war wesentlicher Inhalt eine Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten von Aktiengesellschaften außerhalb des Montanbereichs. Was es schon alles in der Bundesrepublik gab! 1968 setzte die Regierung von Bundeskanzler Kiesinger eine Kommission ein? auf die Große Koalition ist eben auch schon hingewiesen worden? , die innerhalb von zwei Jahren einen Vorschlag zur Reform der Unternehmensmitbestimmung vorlegen sollte und auch vorgelegt hat. Vorsitzender war damals Kurt Biedenkopf. Ich freue mich sehr, dass eben dieser Kurt Biedenkopf heute nicht nur anwesend ist, sondern auch das Thema Mitbestimmung noch nicht ganz aus den Händen gegeben hat. Ich komme nachher noch darauf zurück. Wir können ohne Übertreibung sagen: Lieber Kurt Biedenkopf, dein Engagement hat letztlich dazu geführt, dass wir ein Ergebnis bekommen haben. Das wäre ohne dein Engagement nicht denkbar gewesen. Dafür ein ganz herzliches Dankeschön! Die, die auch dabei waren, werden sich erinnern? uns Jüngeren wird es jedenfalls immer wieder erzählt? , dass es kaum ein Thema gab, über das mit einer solchen Leidenschaft gestritten wurde, und zwar auch innerhalb der Christlich Demokratischen Union. Der Bericht der Biedenkopf-Kommission bildete dann die Grundlage für das Mitbestimmungsgesetz von 1976, dessen Jubiläum wir heute nun auch feiern. Man kann sagen, dass der Name Biedenkopf für Qualität bürgt, denn seiner Kommission gelang es, gegensätzliche Positionen auf der parlamentarischen Ebene zu vereinen. Bei nur 22 Gegenstimmen im Deutschen Bundestag wurde das Gesetz beschlossen. Es war das Ergebnis eines wohl sehr spannenden Gesetzgebungsverfahrens. Lebhafte Kritik gehörte ebenso dazu wie heftige Kontroversen. Vom Kabinettsbeschluss bis zur Verabschiedung dauerte es über zwei Jahre. Ich habe fast Lust, mir die Zeitungsberichte über diese zwei Jahre noch einmal kommen zu lassen. Aber damit ging es erst richtig los, denn so groß die Verständigung auf der Seite der Parlamentarier war, so groß war die Unzufriedenheit auf der Seite der Gewerkschaften und der Arbeitgeber. Das führte dazu, dass vom damaligen DGB-Vorsitzenden Heinz Oskar Vetter überliefert ist, dass er das Gesetz als? ich zitiere? "größte Enttäuschung seiner Amtszeit" ansah. Eine wirkliche Gleichberechtigung sei nicht erreicht worden und die Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat sei u. a. durch das doppelte Stimmrecht des Aufsichtsratsvorsitzenden faktisch unterrepräsentiert. Herr Sommer hat auf eine etwas höflichere Art und Weise eben noch einmal darauf hingewiesen, dass es nicht die Idee der Gewerkschaften war. Die andere Seite, also die Arbeitgeber, zog vor das Bundesverfassungsgericht. Die Arbeitgeber sahen durch das Gesetz die Grundlagen einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung gefährdet. Die Reaktion folgte auf dem Fuße, denn die Gewerkschaften kündigten ihre Teilnahme an der konzertierten Aktion auf. Diese bestand ohnehin nur noch auf dem Papier. Es waren also wirklich lebhafte Debatten. So führte eben genau das Gesetz, das eigentlich Kapital und Arbeit versöhnen sollte, zunächst einmal zu einem für kaum möglich gehaltenen Tiefpunkt der Beziehungen der Sozialpartner. Das ging so bis 1979. Da bestätigte das Bundesverfassungsgericht einerseits die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes in vollem Umfang, andererseits wies es weiter gehende Beteiligungsforderungen zurück, die auf eine volle Parität von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zielten. Danach war, wie es manchmal bei großen politischen Entscheidungen ist, salopp gesagt 20Jahre Ruhe. Die Dinge entwickelten sich vernünftig weiter. Es ist vielleicht auch ein Beispiel für die Notwendigkeit mutiger parlamentarischer Entscheidungen. Also eigentlich gilt den Bundestagsabgeordneten von damals ein kleines Dankwort. Doch seit Ende der 90er-Jahre ist die Unternehmensmitbestimmung erneut Gegenstand wissenschaftlicher und politischer Kontroversen sowie vielfältiger Reformvorschläge geworden. Es wurde wieder eine Kommission eingesetzt, und zwar unter Bundeskanzler Gerhard Schröder. Die neue Bundesregierung hat diesen Auftrag sehr bewusst erneuert. Es geht darum, Vorschläge zur Modernisierung der Unternehmensmitbestimmung zu erarbeiten. Ich kann nur sagen, dass große Koalitionen offensichtlich dazu prädestiniert sind, sich mit dieser Frage zu beschäftigen. Die Leitung der neuen Kommission liegt wieder bei Kurt Biedenkopf. Ich hoffe? ich könnte sagen, dass ich es eigentlich auch erwarte? , dass wir Ergebnisse bekommen und dass es gelingt, Gräben, die natürlich da sind, zu überwinden. Ich sage das wirklich ernsthaft. Ein Scheitern und kein Ergebnis dieser Kommission wäre kein guter Beitrag für die politische Arbeit. Insofern werden wir mit Spannung warten und dort, wo Unterstützung notwendig sein sollte, diese auch geben. Ich weiß auch, dass es keine leichte Aufgabe ist. Die Hans-Böckler-Stiftung und der Deutsche Gewerkschaftsbund haben die heutige Jubiläumsveranstaltung unter das Motto "Mehr Demokratie in der Wirtschaft" gestellt. Sie greifen damit einen aus meiner Sicht ganz zentralen Aspekt auf, weil er die gesamte Mitbestimmungsdiskussion auch immer geprägt hat. Artikel14 des Grundgesetzes zeigt uns das ganze Spannungsfeld des Themas Mitbestimmung. Denn dort ist festgelegt, dass Arbeitnehmermitbestimmung nur so weit gehen kann, wie die Rechte der Eigentümer nicht ausgehöhlt werden. So weit dieser Artikel. Aber bei der konkreten Ausfüllung ergeben sich die Schwierigkeiten. Die ganze Diskussion in den 70er-Jahren spielte sich genau zwischen diesen beiden Polen ab. Ich glaube, wir können sagen, dass sich auch heute wieder die Diskussion in diesem Spannungsfeld abspielt. Aber bei aller Kritik? und das möchte ich hier ausdrücklich festhalten? können wir sagen, dass es in Deutschland kaum jemanden gibt, der betriebliche und unternehmerische Mitbestimmung grundsätzlich in Frage stellt. Ich halte das für richtig. Ich sage: Ich gehöre zu denen, die dies nicht in Frage stellen, sondern für eine große Errungenschaft halten. Damit darf man sagen, dass die Mitbestimmung ein nicht wegzudenkender Teil unserer Sozialen Marktwirtschaft ist, die sich in Deutschland bewährt hat. So empfehle ich auch den Kritikern, dass sie sich gelegentlich die Vorteile vor Augen halten, und zwar ganz besonders der betrieblichen Mitbestimmung, weil sie vielleicht auch im täglichen Leben sichtbarer sind. Ich will nur wenige Stichworte nennen. Die Beteiligung der Arbeitnehmer an unternehmerischen Entscheidungen trägt natürlich dazu bei, dass sich Arbeitnehmerinnern und Arbeitnehmer auch stärker mit diesen Entscheidungen identifizieren. Das ist natürlich ein Beitrag zur Motivation und zum Engagement der Mitarbeiter und fördert den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens. Zweitens. In den letzten Jahren? und ich will noch einmal auf die deutsche Einheit einen besonderen Blick werfen? tragen die Mitarbeiter natürlich für sie schmerzhafte und strukturell unumgängliche Einschnitte eher mit, wenn sie in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Das war im Zuge der deutschen Einheit an vielen Stellen in den neuen Bundesländern so. Das war natürlich auch in den alten Bundesländern und in ganz Deutschland angesichts der Globalisierung so. Drittens. Die Mitbestimmung fördert insofern auch die Verantwortlichkeit der Arbeitnehmer für ihr Unternehmen, denn in den Aufsichtsräten müssen Beschäftigte und Gewerkschaften genau wie die Arbeitgeber die langfristige Entwicklung im Auge behalten. Man kann sich nicht nur auf den Tag konzentrieren, sondern die Mitarbeit im Aufsichtsrat erfordert es einfach, auch die lange Linie zu sehen. Viertens. Ein weiterer Vorteil besonders der betrieblichen Mitbestimmung besteht darin, dass Konflikte möglichst durch Dialog und Mitendscheidung beigelegt werden. Dem entspricht, dass in Mitbestimmungsangelegenheiten kein Arbeitskampf geführt werden kann. Im europaweiten Vergleich hat man in Deutschland daher mit die wenigsten Streiktage. Ich glaube, man darf mit Fug und Recht behaupten, dass dies eine Folge der Mitbestimmung ist. Was sozialer Friede als Standortfaktor bedeutet, ist in vielen unternehmerischen Entscheidungen auch klar geworden. Vielleicht wird nicht immer darüber gesprochen, wenn es um die Vorteile des Standorts Deutschland geht. Aber ich bin ganz sicher, dass es bedacht wird, wenn man sich überlegt, wo man hingeht. Es ist gerade das Wunderbare an der Sozialen Marktwirtschaft, dass sie immer darauf ausgelegt ist, Konflikte durch Dialog und Mitendscheidung zu überbrücken. Diese Fähigkeit müssen wir uns in Deutschland auf jeden Fall bewahren. Alle, die nun Verantwortung tragen, dürfen aber natürlich? und sie tun es auch nicht? mit Scheuklappen durch das Land laufen. Wir verschließen auch an einem Tag wie heute nicht die Augen vor Kritik, die der Mitbestimmung zum Teil durch die Betriebe entgegengebracht wird. Ich nenne auch hier einige Stichpunkte. Ich glaube, dass das dazu gehört. Die Diskussion ist im Gange. Manchen Arbeitgebern sind die Verfahren zu bürokratisch, zeitraubend und kostenintensiv und die gesetzlichen Systeme zu unflexibel. Manchen sind die Aufsichtsräte zu groß. Die Besetzung mit oft unternehmensfremden Personen führt aus ihrer Sicht nicht selten zu sachfremden Entscheidungen. Darüber kann man viel sagen. Aber ich schließe mich dem nicht an, denn ich nenne jetzt die Kritikpunkte. Die Mitbestimmung gerät insbesondere immer dann in die Diskussion, wenn Fehlentscheidungen in Unternehmen von Aufsichtsräten nicht verhindert werden konnten. Auch das muss man sehen. Durch die Mitwirkung in den Aufsichtsräten laden sich natürlich Arbeitnehmervertreter eine große Verantwortung auf. Aus diesen Kritikpunkten hat sich aus meiner Sicht etwas sehr Vernünftiges entwickelt, nämlich eine Diskussion über gute Unternehmensführung. Sie hat im Jahr 2002 zur Erstellung des Deutschen Corporate Governance Kodex geführt. Dieser enthält international und national anerkannte Standards guter und verantwortungsvoller Unternehmensführung und setzt dabei ganz besonders auch einen Schwerpunkt auf die Arbeit des Aufsichtsrats. Ich jedenfalls appelliere an alle Verantwortlichen, dass der Kodex ernsthaft und lückenlos umgesetzt wird. Ich plädiere dafür, diese und andere Kritikpunkte auch an einem solchen Festtag wie heute nicht einfach abzutun, sondern ich plädiere dafür, ernsthaft abzuwägen, allerdings immer vor dem Grundsatz einer positiven Haltung zur Mitbestimmung insgesamt. Die Mitbestimmung ist und bleibt? ich will es an dieser Stelle noch einmal sagen? ein wichtiger Teil der Sozialen Marktwirtschaft. Auf dieser Grundlage, und das muss als Ausgangspunkt klar sein, müssen alle weiter gehenden Diskussionen geführt werden. Ich glaube, auf dieser Grundlage können sie auch geführt werden, denn das deutsche Modell steht vor erheblichen Herausforderungen. Wie für viele Bereiche gilt auch hier? das ist zumindest meine Überzeugung? : Nur derjenige, der zu Veränderungen bereit ist, wird die Substanz dessen erhalten, was uns allen erhaltenswert und wichtig ist. Nur so können wir die Teilhabe der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an der Unternehmensführung im internationalen Kontext sichern. Ich glaube nicht, dass diese Feierstunde der Rahmen ist? jedenfalls nicht am Vormittag; am Nachmittag wird ja sehr detailliert diskutiert, was ich auch sehr gut finde? , um zu sehr ins Detail zu gehen. Aber ein paar Punkte möchte ich doch nennen. Ich sehe die deutsche Unternehmensmitbestimmung aktuell aus mehreren Richtungen unter Druck. Zum einen hat die bereits erwähnte Diskussion über den Deutschen Corporate Governance Kodex die mangelnden Kontrollmöglichkeiten durch Aufsichtsräte offen gelegt. Ich freue mich an der Stelle ausdrücklich darüber, dass es auf Gewerkschaftsseite die Bereitschaft gibt, durchaus über Größe und Zusammensetzung der Aufsichtsräte zu reden. Wir erwarten Vorschläge? mal sehen, ob es dazu kommen wird? , wie die Unabhängigkeit des Aufsichtsrats erhöht, die Kompetenz gestärkt und die Arbeitsfähigkeit verbessert werden kann. Ein anderer Punkt? und das ist wahrscheinlich der schwierigere Punkt? ist die Globalisierung und das Zusammenwachsen Europas. Das ist natürlich ein Faktor, der Auswirkungen auf unsere nationalen Regelungen der Unternehmensmitbestimmung hat. Die Schaffung eines europäischen Binnenmarkts wirft nach meiner festen Überzeugung sowieso eine große Zahl von Problemen auf. Die Schnittstelle zwischen sozialen und wirtschaftlichen Belangen, so man sie überhaupt in einer Sozialen Marktwirtschaft definieren kann, ist im europäischen Binnenmarkt noch sehr unvollkommen gelöst. Ich sehe das insbesondere auch im Blick auf das, was heute hier gar nicht zur Diskussion steht, nämlich soziale Sicherungssysteme und Ähnliches. Ich empfehle uns auch hier? und ich bin jederzeit dazu bereit? , eine sehr grundsätzliche Diskussion zu führen, weil die Frage, wo die Wettbewerbselemente beginnen und wo die Schutzzonen sind, in der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs aus meiner Sicht nicht vollständig beantwortet wird und dem Europäischen Gerichtshof diese Trennlinie zur Definition auch nicht überlassen werden sollte. Wir sollten uns als politisch und gesellschaftspolitisch Verantwortliche hier einmischen und die Definitionshoheit der Politik auch wirklich in der Hand behalten. Hier sind wir in einer komplizierten Situation. Aber zurück zur Mitbestimmung. In der Europäischen Union ist die Mitbestimmung, die Verantwortlichkeit der Arbeitnehmer sehr unterschiedlich geregelt. Das deutsche Modell hat eine Sonderstellung. Es ist so von keinem anderen Land übernommen worden. Etwa die Hälfte der alten 15Mitgliedstaaten kennt in der einen oder anderen Weise die Mitbestimmung der Arbeitnehmer. In anderen EU-Staaten ist sie so gut wie unbekannt. Unter den neu beigetretenen Mitgliedstaaten ist das Bild unterschiedlich. Da ist noch einiges in der Entwicklung. Aber nicht nur in Europa ist die Mitbestimmung uneinheitlich ausgeprägt: Das deutsche Gesellschaftsrecht verwendet auch ein dualistisches Modell von Vorstand und Aufsichtsrat. Viele unserer Nachbarn bevorzugen dagegen ein Modell mit einem einheitlichen Verwaltungsrat. Die paritätische Besetzung des Aufsichtsrats nach dem Mitbestimmungsgesetz ist auf das dualistische System der Unternehmensleitungen zugeschnitten. Ich glaube, das ist unstrittig. Es setzt die Trennung zwischen Vorstand und Aufsichtsrat mit klar abgegrenzten Kompetenzen voraus. Es ist einleuchtend, dass das bei einem monistischen System nicht einfach übernommen werden kann, wie das in anderen Ländern der Fall ist. Hinzu kommt, dass der Europäische Gerichtshof in mehreren Urteilen der Niederlassungsfreiheit eine sehr hohe Priorität eingeräumt hat. Das ist übrigens einer dieser Fälle, wo ich sehe, dass durch die Rechtssprechung einfach Fakten geschaffen werden. Deshalb ist auch schon heute zu beobachten, dass sich Unternehmen unter Verwendung einer ausländischen Rechtsform in Deutschland niederlassen, ohne die deutschen Mitbestimmungsregeln anzuwenden. So wurde in Deutschland 2005 bereits jede siebte neu gegründete Gesellschaft mit beschränkter Haftung in Form einer britischen "limited" eingetragen. Auch das muss man als eine Entwicklung sehen, an der man nicht so einfach vorbeigehen kann. Meine Damen und Herren, ich schildere all dieses, um die doppelte Herausforderung deutlich zu machen, vor der wir in Europa stehen. Wir wollen zum einen die deutsche Mitbestimmung erhalten. Wir wollen zum anderen dazu beitragen, dass für deutsche Unternehmen bei Fusionen keine Nachteile aufgrund der hier geltenden Mitbestimmungsregelungen entstehen. Schließlich wollen wir vermeiden? das muss unser gemeinsames Anliegen sein? , dass Unternehmen im Zweifel als Sitzland nicht Deutschland wählen, sondern auf Nachbarländer ausweichen. Das kostet uns nicht nur Steuereinnahmen, sondern dadurch können wir auch Arbeitsplätze verlieren. Das kann man nicht einfach so tatenlos geschehen lassen. Ich bin sehr europa-freundlich. Ich glaube auch, dass wir die Globalisierung mutig gestalten sollten. Aber für Menschen, die in Deutschland von Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes in politische Verantwortung gewählt wurden, spielen dann doch weniger die karitativen Gründe für andere eine Rolle, sondern es geht erst einmal um das Wohl unseres Landes. Das muss unser Maßstab sein. Ich will nicht sagen, dass es der Quadratur des Kreises gleicht, all dies zusammenzuführen. Aber es ist eine ziemlich dramatische und fast schon eine Herkulesaufgabe. Ich will hier nur daran erinnern, dass wir bereits zwei europäische Regelungen in deutsches Recht übernommen haben. Hier hat die Bundesregierung auch jedes Mal sehr klar Einfluss genommen, da sie jeweils auch das deutsche System der Mitbestimmung berührten. Das ist einmal die Richtlinie über die Europäische Gesellschaft und die Richtlinie über die grenzüberschreitende Verschmelzung von Kapitalgesellschaften. Das Instrument der Mitbestimmungsvereinbarung ist die Antwort, die wir bei diesen Richtlinien auf die Frage der zukunftsgerechten Gestaltung der Mitbestimmung gefunden haben. Die Beteiligung der Arbeitnehmer wird in diesen grenzüberschreitenden Fällen vorrangig durch Verhandlungen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite ausgestaltet. Man muss sagen, dass wir es hier mit einem Novum in der Geschichte der deutschen Mitbestimmungskultur zu tun haben. Durch die Eröffnung solcher Verhandlungen entsteht plötzlich eine riesige Flexibilität. Man kann auch sagen, dass ein weites Feld nicht ausgefüllt wird. Es wird damit den unterschiedlichen Mitbestimmungskulturen in den Mitgliedstaaten Rechnung getragen. Es kann auf die ganz spezielle Situation in den einzelnen Unternehmen eingegangen werden. Hier liegen die positiven Chancen für die moderne Weiterentwicklung der Mitbestimmung. Im Falle des Scheiterns der Verhandlungen gibt es eine Auffanglösung, nämlich die Fortgeltung der Mitbestimmung auf dem jeweils höchsten Niveau. Das ist natürlich etwas, was auch eine ganz spezielle Regelung ist, die für Deutschland nicht unwichtig ist. Diese Regelung ist am Anfang auf erhebliche Kritik gestoßen. Sogar die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz wurde in Zweifel gezogen. So sind im monistischen System auch in bestimmten Konstellationen Fälle denkbar, bei denen die Eigentümer in eine Minderheitsposition im Verwaltungsrat geraten könnten. Ob hier wirklich Handlungsbedarf besteht? ich sage das einmal in aller Ruhe? , wird die Praxis zeigen. Man sollte nicht die extremste theoretische Diskussion führen, sondern einfach das Instrument annehmen. Die Unternehmen beginnen inzwischen, die Chancen der Verhandlungslösung zu nutzen. Das beweist etwa die beschlossene Verschmelzung der italienischen RAS mit der deutschen Allianz und die Umwandlung des Konzerns in eine europäische Gesellschaft. Darüber wird ja, wie ich dem Programm entnommen habe, heute Nachmittag noch einmal auf einer der "Themeninseln" diskutiert, wie das so schön heißt. Ich weiß zwar nicht, wer das Meer darum herum ist, aber ich wünsche erfolgreiche Diskussion auf dieser "Themeninsel". Als wichtiger noch fehlender Baustein zur Neugestaltung des europäischen Gesellschafts- und Mitbestimmungsrechts steht noch die Verabschiedung der Sitzverlegungsrichtlinie aus. Sie wird von der finnischen EU-Präsidentschaft vorangetrieben. Ich will nicht sagen, dass sie sich damit der deutschen Präsidentschaft ziemlich schnell nähert. Vielleicht werden die Finnen noch fertig. Durch die grenzüberschreitende Sitzverlegung in einen anderen Mitgliedstaat darf die Mitbestimmung der Arbeitnehmer nicht gegen ihren Willen verloren gehen. Deshalb tritt die Bundesregierung dafür ein, dass auch hier stets dann Verhandlungen über die Mitbestimmung stattfinden sollen, wenn das Recht des neuen Sitzstaats nicht dasselbe Mitbestimmungsniveau gewährleistet, das in der Gesellschaft vor ihrer Sitzverlegung bestand. Damit sind wir mitten im Blick auf die vor uns liegenden Aufgaben. Es ist ein Ziel der Bundesregierung, die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf europäischer Ebene zu sichern und zu gestalten. Das haben wir im Koalitionsvertrag ausdrücklich verankert. Die Mitbestimmung muss sich den beschriebenen Herausforderungen der Internationalisierung und des Binnenmarktes stellen. Wir müssen gemeinsam nach Wegen suchen, wie wir die Mitbestimmung so gestalten können, dass sie ihre positiven Wirkungen entfalten und im internationalen Wettbewerb bestehen kann. Deshalb erwarten wir mit Spannung Vorschläge für eine moderne, aber eben auch europataugliche Weiterentwicklung der deutschen Unternehmensmitbestimmung. Die Position ist schön, dass wir warten können. Aber ich glaube auch, dass es ganz ohne Änderungen nicht gehen wird, sondern dass die Aufgabe zeigt, dass Veränderungsbedarf besteht. Es geht darum, unsere Mitbestimmungssysteme flexibler zu gestalten und damit zukunftsfähig zu machen. Vielleicht ist der Weg, den wir auf europäischer Ebene beschritten haben, ein Ansatz, mit dem wir leben könnten. Wir sollten uns auch nicht davor verschließen, eine Internationalisierung von Aufsichtsräten zu erreichen, die ich für grenzüberschreitend tätige deutsche Unternehmen durchaus für wesentlich erachte. Bei zunehmend global agierenden Unternehmen ist es natürlich überprüfenswert, ob nicht auch ausländischen Arbeitnehmern die Möglichkeit eröffnet werden sollte, im Aufsichtsrat mitzuarbeiten. Ganz neue Dinge kommen da auf uns zu. Wenn man einmal überlegt, dass bei der Firma Siemens von 460.000 Beschäftigten nur noch etwa ein Drittel deutsche Beschäftigte sind, aber im Aufsichtsrat nur deutsche Arbeitnehmervertreter sitzen, dann ist das ein Faktum, an dem man nicht ganz einfach vorbeigehen kann. Andererseits ist uns selbstverständlich daran gelegen, dass die Bedürfnisse und Interessen des deutschen Standortes? jetzt komme ich wieder auf unsere Verpflichtung zurück? nicht zu kurz kommen. Ich glaube, die Verbundenheit mit dem Land, in dem man als Unternehmen groß geworden ist, ist eine Tugend und nicht etwa eine betriebswirtschaftliche Torheit. Auch das muss in diesen Zeiten manchmal gesagt werden. Ich habe es bei dieser Festrede relativ einfach, weil ich immer auf die Kommission verweisen kann und nur Fragen zu stellen brauche. Das sind Fragen auch gerade in Bezug auf das Verhandlungsmodell. Sollen ergebnisoffene Verhandlungen möglich sein? Auf welcher Linie bewegen sich Auffangregelungen? Wer ist Verhandlungspartner auf Arbeitnehmerseite? Welchen Rechtscharakter soll eine Vereinbarung haben? Das sind alles Dinge, mit denen Sie sich? und Sie sind ja heute relativ vollzählig anwesend? auseinandersetzen sollten. Aber ich sage noch einmal, dass es kein gutes Zeichen wäre, wenn das Ergebnis der Kommission eine Vielzahl von Vorschlägen wäre, von denen keiner die Zustimmung findet. Das würde die Politik vor eine ziemlich komplizierte Aufgabe stellen. Ein Nicht-Handeln? ich sage es noch einmal? kann uns später teuer zu stehen kommen. Deshalb lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, die deutsche Unternehmensmitbestimmung so weiterzuentwickeln, dass wir in weiteren 30Jahren? ich will nicht ganz so weit gehen wie Sie? eine ähnlich schöne Veranstaltung erleben können und dass wir sagen können: Wir haben die Zeichen der Zeit erkannt. Wir haben aus dem, was wir in 30Jahren erfolgreich geschafft haben, das Richtige in einer Zeit der Veränderung gemacht und damit? und das sage ich in Anwesenheit des internationalen Gewerkschaftsbundes? auch einen Beitrag dazu geleistet, die internationale Wirtschaftsordnung sozialverträglich zu gestalten. Die Globalisierung wird uns vor die Herausforderung stellen, dass wir Antworten darauf geben müssen, wie wir das, was national als Soziale Marktwirtschaft funktioniert hat, was wir europäisch noch einigermaßen gemeinsam gestalten? aber schon hier zeigen sich Schwierigkeiten? , auch in die Vorstellungen einer menschlichen globalen Wirtschaft einfließen lassen. Die größte Gefahr, die ich heute sehe, ist die Gefahr, dass Menschen nicht mehr den Eindruck haben, dass Politik und Organisationen Wirtschaftsabläufe gestalten können. Aber wenn wir uns daran erinnern, dass der Ausgangspunkt all dieser Regelungen? und das ist in unserem Grundgesetz wunderbar festgehalten? letztlich die Würde jedes einzelnen Menschen ist, dann ist es auch der Auftrag, die Globalisierung menschlich zu gestalten. Dabei bitte ich Sie alle um Ihre Mitarbeit und danke für das Engagement, das Sie zeigen. Herzlichen Dank, dass ich hier heute sprechen konnte!