Redner(in): Angela Merkel
Datum: 01.09.2006

Untertitel: am 1. September 2006 in Dresden
Anrede: Sehr geehrter Herr Professor Roth, sehr geehrter Herr Professor Syndram, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Georg Milbradt, liebe Frau Milbradt, sehr geehrter Herr Ministerpräsident a. D., lieber Kurt Biedenkopf, Herr Landstagspräsident, Abgeordnete, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/09/2006-09-01-rede-bkin-gruenes-gewoelbe,layoutVariant=Druckansicht.html


sehr geehrte Frau Kollegin, liebe Madame Colonna,

es ist wirklich

das wissen die Dresdnerinnen und Dresdner

noch nicht sehr lange her, da war es eine rußgeschwärzte Ruine, die den großartigen Dresdner Theaterplatz dominiert hat. Und was ist daraus geworden? Wenn man sich heute dem neu erstandenen Residenzschloss nähert, dann braucht man sehr viel Fantasie, um sich eben dieses alte Bild der Ruine vor Augen zu führen. Denn heute entdecken wir etwas völlig anderes: Einen wunderbaren Ort, der als Schatzkammer wieder erschaffen wurde.

Diese Schatzkammer lässt uns erahnen

ich freue mich auf den Rundgang; ich habe noch nicht sehen können, was der Ministerpräsident schon gesehen hat wie man sich vor Jahrhunderten ein goldenes Zeitalter erträumt hat, nämlich als übervolles Spiel von Farben und Ornamenten, von wundersamen Materialien und Kostbarkeiten. Kurz: Ein Glanzstück europäischer Kultur in einer der schönsten Städte Europas

das ist Dresden.

Mit dem "Historischen Grünen Gewölbe" ist in dieser Stadt ein Spiegelkabinett entstanden, das den Glanz derjenigen reflektiert, die in jahrelanger oder auch jahrzehntelanger Kleinarbeit ein barockes Raumkunstwerk geschaffen haben. Ich bin mir sicher

ich habe gar keine Bange, dass Besucher ausbleiben könnten es wird die riesige Schar der Besucherinnen und Besucher in seinen Bann schlagen, wie das bereits die Dresdner Frauenkirche tut.

Am heutigen Tag erwirbt die Stadt Dresden erneut ein Stück seiner historischen Aura zurück. Das ist ein besonderer Moment, nicht nur für diese Stadt, sondern auch für unser ganzes Land. Deshalb bin ich heute sehr gern hierher gekommen. Das ist

ich denke, das können wir ohne Übertreibung sagen

auch ein Glückstag für Europa. Umso schöner ist es, dass auch die französische Regierung hier vertreten ist.

Gleichzeitig ist es ein Tag, an dem wir innehalten, uns besinnen und erinnern, und zwar an das, was genau heute an diesem Tag vor 67 Jahren begann. Mit dem Zweiten Weltkrieg wurden von Deutschland aus Tod, Vernichtung, Erniedrigung und Verwüstung in die Welt getragen. Die Spuren davon waren, wie wir alle wissen, am Ende nicht zuletzt auch in dieser europäischen Kulturmetropole überall und in schrecklichster Form zu sehen. Dass sich nach dem Ende des Krieges wieder neues Leben in dieser Stadt entfalten konnte, dass unter anderem auch das Schloss in die Kategorie der erhaltenswerten Ruinen aufgenommen wurde, ist dem Einsatz vieler unverzagter Menschen zu verdanken.

Deshalb möchte ich noch einmal stellvertretend für andere

an Hans Nadler erinnern. Denn er setzte sich ab 1945 als Mitarbeiter des Sächsischen Landesamtes für Denkmalpflege und ab 1949 als Sächsischer Landeskonservator dafür ein, unschätzbare Gebäude für den späteren Wiederaufbau zu sichern. Dazu gehörten das Dresdner Schloss oder die Semperoper.

Unzählige Männer und Frauen wollen uns zumindest dort, wo es noch möglich ist, eine Ahnung von der Tradition vermitteln, die diese Stadt ausmacht von ihrer geistigen Größe, von ihrer Würde und Anmut. Wenn wir heute manchmal über bestimmte Probleme sprechen, dann sollten wir uns daran erinnern, wie Menschen in schwierigster Zeit die Kraft dazu aufgebracht haben, immer wieder an die Kultur zu denken. Gäbe es den Einsatz dieser Frauen und Männer nicht, dann hätten wir heute weder eine Vorstellung davon, wie die Silhouette der Frauenkirche den Stadtraum prägt, noch würden wir heute die Gemächer des "Historischen Grünen Gewölbes" wieder bestaunen können. Und deshalb ist der heutige Tag für mich vor allem auch eines: Ein Tag des Dankes

des Dankes an alle, die mit ihrer unermüdlichen Arbeit und ihrer Unverzagtheit dieses neuerliche Wunder von Dresden möglich gemacht haben.

Ich danke den Ingenieuren, den Restauratoren, den Installateuren, den Tischlern und Bildhauern

man kann nicht alle erwähnen; jeder möge sich in diesen Dank eingeschlossen fühlen auch den politischen Entscheidungsträgern und natürlich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Staatlichen Kunstsammlungen. Denn sie haben mit großem Elan, mit Leidenschaft und hohem Geschick an einer neuerlichen Kunstschöpfung mitgewirkt. Dank und herzlichen Glückwunsch allen, die dabei waren und sind!

Schon seit 2004 ziehen 1.000 Ausstellungsstücke im modernen Teil des "Grünen Gewölbes" jährlich mehr als eine Million Besucherinnen und Besucher an. Man mag sich gar nicht vorstellen, wie viele erst kommen werden, wenn die mehr als 3.000 Kunstschätze ab sofort im "Historischen Grünen Gewölbe" bestaunt werden können. Jedenfalls habe ich schon gehört, dass die Kapazität der Hotels in Dresden erweitert werden sollte. Das ist sicherlich eine gute Nachricht nicht nur für den Kämmerer der Stadt, sondern auch für den Finanzminister des Freistaates.

Wenn wir schon über die Finanzen des Freistaates sprechen, dann möchte ich an diesem Tag nicht unerwähnt lassen, dass Sachsen immer für seine Kulturförderung eingestanden ist. Fast alle Baumaßnahmen konnten ohne nennenswerte Zuwendungen aus dem Kulturhaushalt des Bundes finanziert werden. Das ist wenn ich mir die Gesamtsumme aller Projekte in Deutschland anschaue nicht ganz selbstverständlich.

Deshalb möchte ich Ihnen, lieber Herr Ministerpräsident, und der Sächsischen Staatsregierung meinen besonderen Dank und großen Respekt aussprechen. Denn Sie haben die niedrigste Pro-Kopf-Verschuldung in den neuen Bundesländern und gleichzeitig die höchsten Kulturausgaben eines Flächenstaates der Bundesrepublik. Beides geht zusammen, und dafür herzlichen Dank!

Die Landeshauptstadt

der Ministerpräsident hat es schon gesagt

zeigt noch mehr. Dresden zeigt, wie kulturelles Charisma und wirtschaftlicher Erfolg sehr gut zusammenpassen können. Kultur ist eben nicht nur das Sahnehäubchen auf allem anderen. Nein, Kultur ist eine Zukunftsinvestition in unsere Gesellschaft. Und weil das so ist ich bin davon zutiefst überzeugt hat sich der Bund seit 1990 ebenfalls intensiv an der Wiederherstellung und Erneuerung der Kulturbauten in den neuen Bundesländern beteiligt.

Dieses Engagement geht im Übrigen auf den Einigungsvertrag zurück. In Artikel 35 wird ausdrücklich von Deutschland als "Kulturstaat" gesprochen. Dort heißt es ich zitiere dass die "kulturelle Substanz" in den neuen Ländern "keinen Schaden" nehmen darf. Man hat es noch ganz schön vorsichtig formuliert, wenn man heute sieht, was daraus geworden ist. Damit wurde zum Ausdruck gebracht, dass die wiedergewonnene Einheit unserer Nation ganz wesentlich auf den jahrhundertealten Traditionen der gemeinsamen Kultur beruht. Verbunden sind damit viele architektonische Zeugnisse, deren Unterhalt naturgemäß auch erhebliche finanzielle Mittel erfordert.

Viele davon befinden sich eben in den neuen Ländern

wenn wir an die Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden denken, aber genauso an die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, an die Klassik-Stiftung Weimar, an die Wartburg in Eisenach oder an die Luthergedenkstätten. Denken wir an Namen wie Johann Sebastian Bach und Richard Wagner, Gottfried Semper oder Richard Strauss

sie alle lassen erahnen, wie groß der dauerhafte Gewinn ist, den ganz Deutschland aus der deutschen Einigung hat.

Übrigens: Besonders bewusst werden uns kulturelle Schätze meist erst dann, wenn wir sie zu verlieren drohen, z. B. als wir nach der Flutkatastrophe im August 2002 mit vielen Dresdnerinnen und Dresdnern und Tausenden Besuchern aus dem In- und Ausland plötzlich um die Schätze einer jahrhundertealten Kultur bangen mussten. Es war großartig auch daran möchte ich noch einmal erinnern dass wir in diesem wirklich existenziellen Moment auf die gemeinsame Solidarität in unserem Land, aber auch weit über unsere Landesgrenzen hinaus, bauen konnten. Spenden kamen sogar

manche von Ihnen wissen das

aus Äthiopien nach Dresden. Das zeigt, wie die Dinge auf dieser Erde zusammenhängen.

Aber an einem Tag wie heute, meine Damen und Herren, soll auch daran erinnert werden: Der Bund wird auch in Zukunft an seinem zentralen kulturpolitischen Ziel festhalten, die so genannten "kulturellen Leuchttürme" in den neuen Ländern verlässlich zu unterstützen. So können sie ihren national und international herausragenden Ruf erhalten oder wiedererlangen. Dabei gibt es noch viel zu tun. Das wissen wir, und Sie wissen es auch.

Was sind solche Leuchttürme? Wie kann man sie ermitteln? Ich glaube, eine wichtige Orientierung bietet hier, wie ich finde, das "Blaubuch" von Prof. Paul Raabe über "kulturelle Leuchttürme" in Brandenburg, in Mecklenburg-Vorpommern, in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Dieses Kompendium benennt erstmals systematisch deutsche Kulturstätten von sowohl gesamtstaatlicher Bedeutung als auch von europäischem Rang.

Mancher mag fragen: Haben wir in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit nicht Wichtigeres zu tun? Muss das jetzt sein? Ich kenne diese Bedenken, und doch bin ich zutiefst überzeugt: Das eine schließt das andere überhaupt nicht aus; im Gegenteil: Die Beschäftigung mit unserer Kultur, mit ihren verschiedenen Einflüssen und Traditionen ist unverzichtbar. Wir brauchen sie wie die Luft zum Atmen. Wir brauchen sie im Übrigen auch, um die Kulturen anderer Völker und Nationen verstehen und würdigen zu können.

Wenn man über Geschichte spricht, stellt sich die Frage, ob man Kultur ohne Geschichtskenntnis überhaupt verstehen kann. Das deutet auch auf eines der Defizite hin

Defizite, die uns das sozialistische Bildungssystem mit Sicherheit überlassen hat. Allerdings muss ich sagen: Auch gesamtdeutsch ist die historische Bildung nicht mehr so, wie man sie sich von Ost nach West schauend

vorgestellt hatte. Also: Wir haben da gemeinsam viel zu tun.

Das Verständnis unserer eigenen Kultur, unserer eigenen Geschichte, eröffnet uns die Möglichkeit, Kulturen anderer Länder zu verstehen; und auch das ist Globalisierung. Gerade in Zeiten dramatischer sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen führt eine intensive Auseinandersetzung mit unseren Überlieferungen, mit unseren Traditionen und unseren Innovationen dazu, uns unserer grundlegenden Werte zu vergewissern.

Denn ob große oder kleine Museen, ob Musikhochschulen oder Amateurtheater - sie alle bieten die Möglichkeit, unser Selbstverständnis zu reflektieren und im besten Sinne des Wortes auch ein Stück spielerisch zu erproben. Ich kenne kein anderes Medium, in dem das anschaulich möglich ist. Und deshalb müssen Kultureinrichtungen offen für alle sein

für Menschen jeden Alters, unterschiedlichster sozialer, religiöser, politischer und ethnischer Herkunft. Denn unsere Kultur findet nicht im luftleeren Raum statt. Sie kann auch so etwas wie ein Botschafter unseres Landes sein.

Schauen wir uns die Erfolge insbesondere der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden mit ihren Ausstellungen in Russland und China, in Japan, in den USA, in Frankreich und in vielen anderen Ländern an. Hier wird deutlich, welch enormes Potenzial diese Glanzstücke der europäischen Kunst besitzen. Sie sind so etwas wie Visitenkarten Deutschlands

eines Deutschlands, das offen, tolerant und sich seiner kulturellen Traditionen bewusst ist.

Meine Damen und Herren, heute spüren wir es erneut hautnah: Kultur fordert heraus, Kunst begeistert und Dresden fasziniert. Auf diese Stadt schaut die Welt

staunend über wiedererstandene Kunstschätze und voller Neugier darauf, wie sich diese Stadt an der Elbe weiterentwickeln wird.

Das "Historische Grüne Gewölbe" verbindet Vergangenheit mit Gegenwart und Zukunft. Letztlich verschlägt diese wohl größte barocke Schatzkammer Europas einem die Sprache. Hier finden Worte ihre Grenzen. Das "Historische Grüne Gewölbe" überwältigt. Deshalb freuen wir uns ganz einfach darauf, es bald sehen zu können.

Herzlichen Dank, dass ich heute dabei sein darf!