Redner(in): Angela Merkel
Datum: 08.09.2006

Untertitel: am 8. September in Georgsmarienhütte
Anrede: Meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/09/2006-09-08-georgsmarienhuette,layoutVariant=Druckansicht.html


Herr Großmann,

Herr Brandebusemeyer,

lieber Christian Wulff,

werte Festgemeinde!

Ich sage es aus vollem Herzen: Ich freue mich, auch mit mindestens zwei Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und einem Vertreter des Europäischen Parlaments, der Ihnen nicht ganz unbekannt sein dürfte, heute hier von Berlin nach Georgsmarienhütte geeilt zu sein und bei dieser besonderen Jubiläumsfeier dabei sein zu können.

150 Jahre hier wurde schon der Blick auf das Jahr 1856 geworfen, zurück in eine spannende Zeit. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hat die Grundlagen der Industrialisierung Deutschlands gelegt: Erz, Kohle, Ende des 18. Jahrhunderts die Erfindung der Dampfmaschine, deren Verbreitung in Deutschland eine ganze Weile gebraucht hat, der Bau der ersten Eisenbahnstrecken all das gehört zusammen, und plötzlich bekamen Erz und Kohle eine Bedeutung, die vorher gar nicht abzusehen war.

Insofern gehörte die Entscheidung, hier ein Hochofenwerk zu bauen, damals zu den strategisch richtigen und wichtigen Entscheidungen. Wenn man sich anschaut, dass es Kohle- und Erzvorräte gab, aber eine Sache nicht, dann war es sogar noch eine mutige Entscheidung, denn um die Wasserstraßen war es hier etwas schlechter bestellt als an anderen Stellen. Und trotzdem hat sich die Georgsmarienhütte entwickelt eine Entwicklung, die selbstverständlich voller Höhen und Tiefen war und dann vor 13 Jahren aber auch in eine relativ krisenhafte Situation mündete. Das Stahlwerk im Klöckner-Konzern stand vor dem Aus natürlich als Teil technologischer Weiterentwicklung, und da war Mut gefragt.

Lieber Herr Großmann, mit der Übernahme der Georgsmarienhütte im Jahr 1993 das ist hier schon gesagt worden, aber ich muss es einfach wiederholen haben Sie Mut bewiesen den Mut von Menschen, die Chancen erkennen, die sich vor Herausforderungen nicht drücken, die dann Leidenschaft entwickeln, wenn es schwierig wird, und die den Instinkt dafür haben, dass man trotzdem etwas leisten kann.

Ich glaube, diese Leidenschaft und dieses Überzeugtsein vom eigenen Projekt hat Sie dann auch immer wieder in die Lage versetzt, Helfer zu finden in der Politik, aber auch bei vielen anderen Menschen. Heute sind hier ja viele, viele Partner, die dabei mitgeholfen haben, und ganz zuvörderst möchte ich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nennen. Sie haben selbst beschrieben, dass es am Anfang in dieser krisenhaften Situation natürlich auch Skepsis gab, aber ich glaube, Sie konnten die Menschen überzeugen, weil Sie ein verlässlicher Arbeitgeber waren. Zu dieser Verlässlichkeit gehört der Mut zur wahren Beschreibung der Situation, aber auch die Kraft, ein Stück Bodenständigkeit und Verhaftung mit den eigenen Leuten zu praktizieren.

Die überwiegende Zahl der Beschäftigten hier in der Georgsmarienhütte ist länger als ein Jahrzehnt im Werk, 170 Mitarbeiter sogar länger als drei Jahrzehnte. Bei aller Globalisierung, bei aller Beschleunigung bin ich der festen Überzeugung, dass das Bekenntnis zum eigenen Unternehmen, das Verwachsensein mit der Geschichte und den eigenen Mitarbeitern immer noch ein Standortvorteil sein kann, wenn wir es richtig praktizieren, und das sollten wir bei allem Drang zur Ausbreitung, zur Globalisierung, die ich voll bejahe, nicht vergessen. Zu Hause ist zu Hause, und da hat man ein großes Stück Verlässlichkeit.

Ich möchte einen zweiten Aspekt nennen, an dem man auch sieht, ob die Unternehmensführung Mut zur Zukunft hat. Die Zahl der Auszubildenden in der Georgsmarienhütte ist mit rund 10 Prozent im Vergleich zur Ausbildungssituation in Deutschland überdurchschnittlich. Das ist natürlich etwas, was psychologisch weit über die tatsächliche Chance für die jungen Leute hinaus auch auf die älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausstrahlt, weil man weiß: Hier glaubt man an die Zukunft dieses Betriebes, und das ist ganz, ganz wichtig.

Nun ist es im Augenblick, zum 150. Jahrestag, nicht schlecht um die Stahlbranche bestellt. Das freut uns, aber alle wissen auch, dass sich das schnell wieder ändern kann. Deutschland spielt in der Stahlbranche ganz vorne mit. Wir sind größter Rohstahlproduzent in der Europäischen Union, weltweit liegen wir auf Rang sechs, und die hohe Exportquote von 50 Prozent zeigt, dass die deutsche Stahlindustrie international in der ersten Liga mitspielt.

Das liegt auch daran, dass die Produktivität der Branche verbessert wurde. Wenn man sich anschaut, dass sich in den letzten vier Jahrzehnten die Produktion von 80 Tonnen je Beschäftigten jährlich auf 500 Tonnen je Beschäftigten erhöht hat, dann weiß man, unter welchen Bedingungen die Stahlbranche hier in Deutschland eine Chance hat, und wir wissen auch, dass das für die Zahl der Beschäftigten natürlich Auswirkungen hatte. Aber ich will ganz ausdrücklich sagen: Bei aller Dienstleistungsgesellschaft, bei allem Internet sollten wir die industriellen Anteile an unserer Wirtschaft nicht vernachlässigen. Ich will ein ausdrückliches Bekenntnis dazu abgeben.

Sie haben sich spezialisiert, und durch die Tatsache, dass Sie Stahlschrott verwenden die deutschen Stahlkocher sind sowieso Spitze bei der Verwendung von Stahlschrott, haben Sie auch einen Beitrag dazu geleistet, den Nachhaltigkeitsgedanken, das Kreislaufdenken nach vorne zu bringen. Auch das ist ein sehr moderner Ansatz.

Meine Damen und Herren, deutsche Stähle und auch das, was hier aus Georgsmarienhütte kommt, zeichnen sich durch eine hohe Fähigkeit aus, auch in speziellen Fähigkeiten mitzuhalten. Die Werkstoffwissenschaft ist aus meiner Sicht eine der Branchen, in der Deutschland noch sehr viel leisten kann. Wir sollten mit dabei sein, wenn neue Werkstoffe entwickelt werden. Dass das hier in der Georgsmarienhütte auch immer wieder gelungen ist, ist ein gutes Beispiel.

Nun ist hier schon über die Energiepolitik gesprochen worden. Stahlgewinnung ohne Energieeinsatz wird wohl auch in Zukunft nicht möglich sein. Ich habe von Ihrem Kollegen Schulz gelernt, dass es Wirkungsgrade gibt. Ich brauchte das im Prinzip nicht zu lernen, nur für den speziellen Fall der Stahlproduktion musste man es mir noch mal sagen. Als Physikerin hatte ich es ansonsten schon mitbekommen. Alle CO2 -Einsparungen dürfen bei den ablaufenden Reaktionen natürlich nicht dazu führen, dass zum Schluss rein naturwissenschaftlich keine Stahlproduktion mehr möglich ist, weil die entsprechende chemische Reaktion nicht stattfinden kann.

Da nun insgesamt in Deutschland die naturwissenschaftliche Bildung nicht so ausgeprägt ist, wie ich es mir wünschen würde, führt das zum Teil dazu, dass für die Stahlbranche auch unsinnige Forderungen aufgestellt wurden. Ich möchte als einen Pluspunkt hier doch nennen, dass wir bei der Gestaltung der zweiten Phase des Nationalen Allokationsplans so vorgegangen sind, dass insbesondere die Stahlbranche eine faire Chance hat und in ihrer Entwicklung nicht behindert werden sollte. Ich werde auch dafür sorgen, dass das nicht verändert wird, Herr Großmann, und dass die Stahlindustrie leben und sich entwickeln kann.

Natürlich wollen wir gemeinsam neue Technologien vorantreiben und deshalb werden wir die Mittel für Energieforschung und Energieinnovation bis 2009 um mehr als 30 Prozent aufstocken. Das ist ein Bekenntnis zur Energiewirtschaft. Wir wollen natürlich die Abhängigkeit von Energieimporten reduzieren und eine verlässliche Energiepolitik betreiben. Die Energiepolitik ist leider in den letzten Jahrzehnten zu einem Feld sehr harter, zum Teil auch ideologisch geführter Auseinandersetzungen geworden. Ich werbe dafür, hier wieder zu einem pragmatischen Kurs zurückzukehren. Nur das wird uns eine vernünftige Basis geben.

Ich bekenne mich zu einem Energiemix, bei dem ich da weiche ich von Herrn Großmann etwas ab die Unabhängigkeit von den fossilen Energieträgern für Deutschland in absehbarer Zeit noch nicht sehe. Ich habe neulich gerade an anderer Stelle den Grundstein für ein großes Braunkohlekraftwerk gelegt. Deutschland hat mit der Braunkohle eine erhebliche Rohstoffbasis, die wir nicht kleinreden sollten, die wettbewerbsfähig ist. Und deshalb glaube ich: Die Zukunft liegt in einem Energiemix. Wir können den Anteil an Wasserkraft, den die Schweden haben, leider nicht erreichen. Deshalb müssen wir an anderer Stelle schauen, wie wir uns möglichst unabhängig machen.

Einzelne Vertreter der Kohlewirtschaft scheinen hier auch unter Ihren Freunden zu sein. Ich habe explizit von der Braunkohle gesprochen. Ich glaube, dass die Braunkohle wirklich ein noch unterschätzter Energieträger ist, dass wir natürlich daran arbeiten müssen, dort die Wirkungsgrade zu verbessern, aber dass das etwas sehr Wichtiges ist.

Nun haben Sie gefragt: Was gilt denn eigentlich in der Energiepolitik? Da gilt, dass die Energieversorgung sowohl umweltverträglich als auch sicher als auch wirtschaftlich sein soll. Dieses Dreieck macht Energiepolitik auch so spannend und so schwierig. Aber ich sage Ihnen ganz eindeutig: Wenn man das Dreieck an einer Säule mehr belastet, zum Beispiel bei Umweltverträglichkeit, und nicht mehr die Wirtschaftlichkeit sichert, dann wird der Industriestandort Deutschland schweren Schaden nehmen, und das ist nicht die Absicht der Bundesregierung, im Übrigen auch nicht die Absicht der zuständigen Minister.

Deshalb haben wir es gewagt ich sage bewusst "gewagt", einen Energiedialog in Gang zu setzen mit vielen Akteuren: Aus den energieintensiven Industriebereichen, den Energieerzeugern, den Verbraucherschützern und vielen anderen mehr. Ich möchte, dass es in diesem Energiedialog gelingt, ein verlässliches Szenario bis zum Jahre 2020 aufzustellen das wollen wir bis zum nächsten Jahr schaffen, in dem erkennbar wird: Wie will Deutschland seine Energieversorgung sichern? Wir können uns nicht wegen irgendwelcher Grabenkämpfe davor drücken, uns vor Augen zu führen: Wie wird unsere Energieversorgung aussehen? Insofern ist das ein sehr entscheidendes Vorhaben. Ich bin dankbar, dass so viele daran mitarbeiten.

Wir werden auch während unserer Präsidentschaft die Energiepolitik in Europa auf die Tagesordnung setzen, um auch hier die Zukunft der Europäischen Union zu sichern, die Durchlässigkeit der Energieleitungen sicherzustellen, mehr Wettbewerb zu ermöglichen, denn ohne Wettbewerb im europäischen Raum wird es hier nicht gehen. Wir sind von einem wirklichen Wettbewerb noch meilenweit entfernt. Auch das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren.

Wir haben insgesamt betrachtet im Augenblick eine relativ erfreuliche wirtschaftliche Entwicklung. Aber das ist in gar keiner Weise ein Zeichen für Entwarnung, dafür, dass wir in Deutschland mit Veränderungen stoppen könnten. Deshalb sage ich ganz ausdrücklich: Die Bundesregierung misst gerade dem Thema Innovation und Forschung eine wachsende Bedeutung bei. Dazu brauchen Sie die entsprechenden Rahmenbedingungen von der Unternehmensteuerreform über den Bürokratieabbau bis zu vernünftigen Verbindungen zu den Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen.

Ich glaube, dass wir davon wegkommen müssen, ein Land zu sein, das bei den

Ideen gut ist, viele Patente hat, aber die Brücke zum Produkt dann oft nicht schafft und andere das Geld mit dem verdienen, was wir erfunden haben. Das muss sich in der gesamten Breite durchsetzen. Das werden Politiker ohne Beratung nicht schaffen. Deshalb habe ich einen Rat für Innovation eingerichtet, in dem wir neue Entwicklungen besprechen, in dem wir vor allen Dingen sehr bewusst darüber reden, was klemmt und was hakt: Wo sind die Patentanmeldungen zu langsam? Wo ist der Schutz des geistigen Eigentums nicht gewährleistet? Wo passen die Tempi der Fachhochschulen und Universitäten nicht zu den Entwicklungszwängen wirtschaftlicher Unternehmen? Wo schafft es der Mittelstand nicht, so viel Innovation und Forschung zu realisieren, wie es notwendig ist?

Deshalb wird in unserer Hightech-Strategie, die die Bundesforschungsministerin entwickelt hat, auch das Thema Mittelstand, Forschung und Innovation eine zentrale Rolle einnehmen. Wir werden die Forschungsprämie einführen ein Instrument, bei dem immer dann, wenn ein mittelständisches Unternehmen Forschungsaufträge an Fachhochschulen und Universitäten vergibt, ein Zuschuss gewährt wird, um ganz bewusst Forschung und Produktion miteinander zu verzahnen. Ich hoffe, dass dann auch die jeweiligen Zeitläufe und Innovationszyklen des Mittelstands zum Maßstab von Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten von Hochschulen und Fachhochschulen werden, denn auch diese Rhythmen müssen zusammenpassen.

Meine Damen und Herren, wir haben diese Hightech-Strategie für 17 Zukunftsfelder analysiert. Eines dieser Zukunftsfelder sind die Werkstofftechnologien. Wir glauben, dass Deutschland in diesem Bereich Weltspitze sein kann und dort, wo es das ist, auch weiter sein muss und dass man diese Basis durchaus verbreitern sollte. Es hat sich gezeigt, dass die Qualität des Werkstoffs ein Erfolgsrezept für die Georgsmarienhütte war und auch bleiben wird. In der Kombination mit neuen Methoden der Prozesssteuerung, der Datenverarbeitung, der IT-Technologie können wir auf diesem Feld auch gegen erhebliche ausländische Konkurrenz Marktführer bleiben und weiter vorne dabei sein.

Meine Damen und Herren, all das geht nicht, wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einem Unternehmen nicht motiviert sind. Sie haben hier schon über die beispielhafte Beteiligung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Gewinn des Unternehmens gesprochen. Ich halte Investivlöhne und Mitarbeiterbeteiligung für den Weg der Zukunft, um in der Globalisierung die Bindung der Mitarbeiter an das Unternehmen und die Bindung der Unternehmer an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu kräftigen. In einer Zeit, in der globale Entwicklungen die jeweilige betriebliche Situation so stark prägen, wird es weitaus wichtiger sein als vor 150 Jahren, dass jeder Einzelne weiß, wo sein Unternehmen zu welchem Zeitpunkt steht, dass man erahnt, wie in bestimmten Ausschreibungen die Wettbewerbsbedingungen sind.

Deshalb ist einer der großen Erfolge der Sozialen Marktwirtschaft im Grunde auch der sehr viel selbstbewusstere, emanzipiertere Mitarbeiter heute in den Betrieben. Wenn man sich einmal anschaut, was in den letzten 150 Jahren passiert ist Herr Großmann hat eben so nebenbei von dem Acht-Stunden-Tag australischer Arbeiter gesprochen, der 1856 eingeführt wurde, wenn man sich überlegt, welche Kämpfe es zwischen denen, die das Kapital hatten, und denen, die die Arbeit verrichtet haben, gegeben hat, waren das unglaubliche Lebensveränderungen, die die Industrialisierung der Gesellschaft gebracht hat: Weg von der Agrargesellschaft, in der 70, 80 Prozent der Menschen von der Landwirtschaft gelebt haben, hin zu einem Land, in dem heute nur noch 3 bis 5 Prozent der Menschen von der Landwirtschaft leben.

Meine Damen und Herren, dass am Ende einer solchen Entwicklung, die in der Bundesrepublik Deutschland durch die Geschichte der Sozialen Marktwirtschaft erfolgreich gestaltet wurde, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stehen, die sich selbstbewusst und eigenständig für ihr Unternehmen engagieren, mit entwickeln, mit forschen, sich mit Gedanken machen das ist, glaube ich, die Lösung der Zukunft, um in Deutschland auch im 21. Jahrhundert erfolgreich zu sein.

Meine Damen und Herren, wir feiern heute 150 Jahre Georgsmarienhütte. Es ist hier schon von weiteren Jubiläumsfeiern gesprochen worden. Ich wünsche Ihnen, lieber Herr Großmann, und ich wünsche den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieses Unternehmens für die nächsten Jahre und Jahrzehnte alles Gute, weiter so viel Kraft zur Veränderung, weiter so viel Leidenschaft für diesen Betrieb, und dann wird es auch zum 200. Jubiläum eine gute Jubiläumsfeier geben. Herzlichen Dank, dass ich heute hier dabei sein durfte.