Redner(in): Angela Merkel
Datum: 08.09.2006

Untertitel: am 08. September2006 in Potsdam
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/09/2006-09-08-sanssouci-medienpreis,layoutVariant=Druckansicht.html


Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Herr Platzeck, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,

sehr geehrter Herr van Dülmen,

lieber Lord Weidenfeld,

sehr geehrter Herr Professor Dorgerloh

und ich darf wohl auch sagen sehr geehrter Herr Kouchner,

herzlichen Dank, dass wir hier sein können. Sie haben mich gebeten, heute bei der Verleihung des M100 -Sanssouci-Medienpreises an diesem wunderschönen Ort mit europäischem Bezug dies wurde uns bereits dargestellt dabei zu sein.

Es ist immer wieder interessant mir ist es neulich auch noch einmal bewusst geworden, als ich einen neuen Teil des "Grünen Gewölbes" in Dresden eröffnen durfte? , in welch intensiver Beziehung die europäischen Staaten schon vor Jahrhunderten standen. Geändert hat sich seitdem, dass die kriegerischen Auseinandersetzungen überwunden sind. Das ist natürlich ein unglaublicher Fortschritt, den Europa erzielt hat.

Ich habe in dieser Woche in der Bundestagsdebatte angesichts der internationalen Ereignisse noch einmal darauf hingewiesen, dass die Fähigkeit, über den eigenen Tellerrand zu schauen nicht nur zu kopieren, sondern zu erkennen, dass es gut für das Eigene ist, wenn man die Wünsche und die Interessen des Anderen auch akzeptiert? , der eigentliche qualitative Fortschritt war, der ein integriertes, ein friedlich miteinander agierendes Europa möglich gemacht hat.

Europa wächst zusammen. Ich sage: Europa muss auch zusammenwachsen, um seine Kräfte zu bündeln -wirtschaftspolitisch, sicherheitspolitisch? und sich zu einem verlässlichen Partner zu entwickeln. Dafür brauchen wir institutionelle Grundlagen. Das ist klar. Eine dieser wichtigen institutionellen Grundlagen ist und bleibt für mich der Verfassungsvertrag, weil er uns über die eigentliche partielle Rechtsetzung hinaus ein gemeinsames Verständnis von Europa verschafft. Darüber wird in den nächsten Jahren zu diskutieren sein.

Europa hat im Sinne der Europäischen Union immer wieder Rückschläge erlebt, aber es hat auch immer wieder Fortschritte gemacht. Dass wir uns in weiten Teilen der Europäischen Union zu einer gemeinsamen Währung entschlossen haben im Beisein von Lord Weidenfeld wünsche ich mir auch die Mitgliedschaft Großbritanniens? , halte ich für einen wichtigen Punkt, auch im Hinblick auf Irreversibilität und das Ausräumen europäischer Streitigkeiten.

Wir brauchen eine aufgeschlossene europäische Öffentlichkeit, die die europäische Integration, das Zusammenwachsen Europas, nachvollzieht, mit begleitet und voranbringt. Nur so lassen sich gemeinsame und damit auch für alle tragfähige Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts finden.

Sie haben mich gebeten, etwas zum Thema Europa zu sagen, zu den neuen Bedrohungen und zur Rolle der Medien. Das ist nicht ungefährlich, wenn das jemand aus der Politik macht, aber ich werde mir äußerste Zurückhaltung auferlegen. Ich glaube, dass dies ein wichtiges Thema ist, ein großes Spannungsfeld, und dass darüber auch noch weiter diskutiert werden muss.

Wichtig ist, dass Sie sich treffen und diese Diskussionen führen, weil diese die Gelegenheit bieten, sich der gemeinsamen Werte bewusst zu werden. Ich bin der festen Überzeugung, dass die gemeinsamen europäischen Werte im globalen Dialog der Kulturen und Religionen nur dann auch mit Leidenschaft vertreten werden können, wenn wir ein Stück weit wieder erlernen, sie auch zu artikulieren.

Das ist ein spannender Beitrag der Medien zu einer ausstehenden Diskussion. Denn die Lebendigkeit der Geschichte lässt in unserer heutigen schnelllebigen Zeit an vielen Stellen zu wünschen übrig, zumindest ist sie nicht in dem Maße Gemeingut, wie dies aus meiner Sicht eigentlich richtig wäre.

Wenn wir über den Dialog der Kulturen sprechen, so muss dieser in Respekt und Toleranz anderen Kulturen gegenüber geführt werden. Aber wir kommen sehr schnell dazu, dass Toleranz nicht gegenüber allem gelten kann, sondern dass es nach unserer Auffassung zumindest nach meiner bestimmte Werte gibt, z. B. die Würde des einzelnen Menschen, die nicht verhandelbar sind. Das muss einem solchen Dialog sicherlich vorangestellt werden.

Die Würde des Menschen, jedes einzelnen Menschen, ist der Kristallisationspunkt unseres Selbstverständnisses, und sie ist im Übrigen auch die Grundlage dafür, dass wir so etwas wie Meinungs- und Pressefreiheit haben. Aus der Bindung an die Menschenwürde speist sich auch unser Bekenntnis zur Meinungs- und Pressefreiheit.

Die Verbreitung von Informationen und der Zugang zu allen Informationen sind ein wichtiger Schutz gegen die Unterdrückung oder Drangsalierung einzelner Menschen. Wenn ich den brandenburgischen Ministerpräsidenten sehe, vielleicht auch andere hier im Raum und mich, so haben wir in der früheren DDR 35Jahre lang auch davon gelebt, dass sich Medien für das Leben von Menschen interessiert haben, die die Segnungen der Pressefreiheit aber nicht genießen konnten. Und wenn ich mir heute überlege, wie viele Menschen in Unterdrückung und Drangsalierung leben, so ist dies eine permanente Aufforderung an die Medien, diese Schicksale sichtbar werden zu lassen und uns vor Augen zu führen.

Gleichzeitig ist es in einer Demokratie wichtig, Informationen über Strukturen in die Öffentlichkeit zu bringen, die vielleicht die Tendenz zur Intransparenz haben, in denen Menschen selbstgerecht agieren, über ihre eigenen Möglichkeiten und Kompetenzen hinaus. Das heißt: Die Transparenz, die durch die Medien in unsere Gesellschaft gebracht wird, ist sozusagen immer wieder auch ein Motor der Erneuerung demokratischer Strukturen.

Auf der anderen Seite ist das Bekenntnis zur Würde jedes einzelnen Menschen auch etwas, was die Möglichkeiten der Medien begrenzt. Über diese Begrenzung muss gesprochen werden: Wo werden der Schutz und die Würde des einzelnen Menschen in Mitleidenschaft gezogen, wenn die Medien Anspruch auf alles haben? In diesem Sinne hat es gerade in den letzten Wochen, Monaten und sicherlich auch Jahren immer wieder Fragen gegeben. Wo sind die Medien gefordert? Wo sind ihre Grenzen aufgezeigt? Ich komme gleich noch einmal darauf zurück.

Spätestens die Anschläge des 11. September 2001 haben uns vor Augen geführt, dass wir uns im 21. Jahrhundert mit einer neuen Form der Bedrohung auseinander zu setzen haben mit einer Bedrohung, bei der einzelne Menschen, unterstützt von Staaten, bereit sind, ihr eigenes Leben zur Disposition zu stellen, um demokratisches, freiheitliches Leben zu vernichten. Diese Bedrohung halte ich für eine völlig neuartige und eine, die uns zu anderen Antworten zwingt als die Bedrohung des Kalten Krieges, in der sich der Mechanismus der Abschreckung als sehr erfolgreich erwiesen hat.

Mit Abschreckung allein wird man dem Terrorismus nicht zu Leibe rücken können. Denn es gibt eine völlig asymmetrische Form der Auseinandersetzung, die letztlich dazu führt, dass innere und äußere Sicherheit nicht mehr so klar zu trennen sind und dass die Freiheit in ein völlig neues Spannungsverhältnis gerät. Das heißt: Die Frage, wie viel Sicherheit wir brauchen und wie sich das zu den freiheitlichen demokratischen Strukturen verhält, steht auf der Tagesordnung. Ich glaube, die Antwort muss lauten: Es darf nicht Sicherheit statt Freiheit und nicht Sicherheit oder Freiheit, sondern es muss Sicherheit und Freiheit geben. Aber darüber muss gesprochen werden.

Wir haben uns auch an völlig neuartige Formen der Sicherheitsvorkehrungen gewöhnt oder sind dabei, sie uns zu erarbeiten. In Deutschland gab es eine spannende Diskussion über die Frage der Videoüberwachung und über die Frage von Antiterrordateien. Wir sehen, dass der Föderalismus an seine Grenzen stößt, wenn es darum geht, weltumspannende Gefahrenherde zu bekämpfen. Um auf Europa zurückzukommen: Wenn man sich einmal anschaut, wie in den letzten zehn Jahren das Thema der inneren Sicherheit innerhalb der Europäischen Union an Bedeutung zugenommen hat, so hätte das vor 15 oder 20 Jahren niemand erwartet.

Also sind wir gefragt, und die Medien sind auch gefragt. Ihnen kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Ich würde mir wünschen, dass zwischen den Vertretern der Medien noch einmal sehr intensiv darüber diskutiert wird, wie man auf den so genannten Karikaturenstreit zurückblickt. Ich glaube, dass an diesem so genannten Karikaturenstreit manches von dem sichtbar wird, was als Spannungsverhältnis zwischen Freiheit der Medien, Pflicht zur Berichterstattung, auch mit der Möglichkeit der Überspitzung, und gleichzeitigem Respekt und Toleranz in Bezug auf andere Kulturen auf der Tagesordnung steht.

Die völlig neuen Möglichkeiten der Kommunikationstechnologien werden das sage ich voraus uns alle in der Europäischen Union und auf der Welt dazu bringen zu lernen, wie wir mit diesen Kommunikationstechnologien umgehen. Sie ermöglichen heute einen fast zeitgleichen Austausch über Zeitungen in Europa, im Nahen Osten und in anderen Teilen der Welt. Das heißt, das was bei uns geschrieben wird, ist auch in einem völlig anderen kulturellen Raum sofort verfügbar und erfährt dort eine völlig neue Rezeption.

Die Frage lautet: Ist es einfach mit der Pressefreiheit erklärbar, dass man sich nur auf sein lokales Publikum konzentriert und für dieses schreibt, aber die Wirkungen an anderer Stelle dieser Welt unter völlig anderen Rezeptionsmöglichkeiten außer Betracht lässt und sagt,"es geht mich nichts an, ich bin eine deutsche Zeitung, ich schreibe für Deutschland," oder muss diese Globalisierung der Informationen auch eine Reflexion in der Art und Weise unseres Ausdrucks haben?

Ich vermute, dass wir hier vor einem Lernprozess stehen. Als Politikerin maße ich mir nicht an, die Grenzen medialer Offenheit zu benennen, aber ich würde mir eine Diskussion zwischen den Medienvertretern an dieser Stelle wünschen und glaube zumindest, dass so, wie von den Politikern gefordert wird, dass sich diese nicht nur in der Geschichte und in der Kultur des Landes, das sie repräsentieren, auskennen, sondern auch Kenntnisse über andere Kulturen und Länder haben, auch Vertreter von Medien in zunehmendem Maße genau diese Kenntnisse haben müssen, um verantwortlich reagieren zu können. Das erfordert eine Weitung unserer Weltsicht im wörtlichen Sinne.

Wir haben auch eine sehr interessante und spannende Diskussion darüber, wie über Gefahren, wie über kriegerische und gewalttätige Auseinandersetzungen auf der Welt berichtet wird. Ich will an dieser Stelle ausdrücklich sagen: Diejenigen, die in Kriegsgebieten arbeiten, haben ein erhebliches Risiko auf sich genommen. Sie wissen um die Gefahren, sie riskieren die eigene Gesundheit und ihr Leben, um ihrem Auftrag gerecht zu werden. Jeder kennt die Berichte von Organisationen wie "Reporter ohne Grenzen". Allein im vergangenen Jahr wurden während oder wegen ihrer Arbeit 63Journalisten sowie fünf Medienmitarbeiter ermordet. Die Organisation hat außerdem 1. 307Bedrohungen gegen Journalisten registriert.

Es war schon immer gefährlich, aus Krisengebieten zu berichten, aber die völlig neue Art der Bedrohung hat auch Auswirkungen auf die Berichterstattung. Im Zeitalter asymmetrischer Auseinandersetzungen ist der Gegner oftmals fast unsichtbar. Vor allen Dingen ist er nicht mehr ein staatlicher Gegner im klassischen Sinne, auch wenn Staaten ihn unterstützen. Deshalb macht aus meiner Sicht die asymmetrische Kriegsführung die Position eines neutralen Beobachters und Berichterstatters noch erheblich schwieriger, als dies schon bei den klassischen Frontlinien der Fall war.

Ich glaube, dass der Libanonkonflikt den Ablauf und die Tragweite dieser asymmetrischen Konflikte noch einmal exemplarisch für andere aufgezeigt hat. So lässt sich ermessen, wie schwer es ist, Propagandaversuchen auszuweichen oder gerade diese aufzudecken. Wir kommen dazu, dass wir die Macht der Bilder erleben: Fernsehbilder, Fotografien von Menschen, die vor brennenden Häusern, schreiend, ihr Leben rettend, auftreten wirkungsstarke, ja zum Teil auch sehr suggestive Bilder. Wie kann man als unabhängiges Medium fair soweit dieses Wort überhaupt angemessen ist über einen Krieg berichten, in dem eine reguläre Armee gegen Raketenstellungen vorgeht, die ganz bewusst inmitten ziviler Einrichtungen positioniert wurden?

Ich danke deshalb allen Medien, die in dieser Phase ihren Zuschauern, Zuhörern und Lesern dieses Dilemma immer wieder erklärt haben, die erklärt haben, dass der erste Anschein trügen kann, die erklärt haben, welche Möglichkeiten der Manipulation es im Zeitalter der digitalen Medien und der digitalen Bildbearbeitung gibt. Ich danke allen, die ihre Zuschauer und Zuhörer auch gezielt gleichsam hinter die Kulissen ihres schwierigen Geschäfts haben blicken lassen, und ich wünsche mir, dass es in Zukunft zur Routine aller klassischen Medien gehören wird, die Thesen und Bilder der virtuellen Öffentlichkeiten im Internet zu kommentieren und einzuordnen. Wir haben heute ja auch mehr Möglichkeiten von Zusatzinformationen.

Im Zeitalter der Blogs und der Verschwörungstheorien im Netz kann man weltweite Gegen- und Nebenöffentlichkeiten nicht ignorieren. Dazu zählen auch Propagandaseiten und Hass produzierende Communities, die im Internet zur Ausweitung von Konflikten und Kriegen beitragen.

Oft sind es vor allem die Bilder, die Zusammenhänge und Hintergründe verdrängen oder sogar ein Stück ausblenden. Wir kennen das ja alle: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Mein Appell lautet daher: Vergessen Sie die Sprache nicht. Denn Bilder vermitteln weniger Zusammenhänge als Emotionen. Angesichts eingeschränkter Möglichkeiten der Bilder wird der Sprache eine zunehmende Bedeutung zukommen. Es gibt Zusammenhänge, die nur durch Worte ausgedrückt werden können, und auch Zusammenhänge, die eines freien, analytischen und seriösen Journalismus bedürfen.

Ich will das sage ich hier ausdrücklich selbstbewusste Medien, die ihre öffentliche Rolle verantwortungsvoll ausüben, gerade in einer Demokratie. Und ich denke, angesichts all dieser neuen Herausforderungen ist es an der Zeit, auch einen Austausch zwischen europäischen Medien zu pflegen. Genau das tut M100, und daher bin ich sehr dankbar, dass es diese Initiative gibt. Denn nur so kann sich Europa auch eines gemeinsamen Wertefundaments vergewissern und sich in einer globalen Welt mit seinen Analysen und Beurteilungen behaupten.

Die Initiative M100 ist für die Entwicklung einer solchen europäischen Medienöffentlichkeit ein sehr wichtiger Ort. Verantwortliche lernen sich kennen, nehmen sich Zeit."Zeit" ist übrigens im Zeitalter der Medien auch ein äußerst dramatischer Begriff. Die Recherche lebt oft unter dem Druck, dass etwas schnell fertig werden muss. Ich wünsche mir, dass diese Zeit auch aufgebracht wird nicht nur von jenen, die sich sehr frühzeitig zu einer solchen Initiative zusammengeschlossen haben, sondern auch von möglichst vielen anderen, und dass diese Initiative Nachahmer findet. Denn es wird von großer Bedeutung sein, dass wir uns aus einem gemeinsamen Fundus heraus artikulieren können.

Zum Schluss zitiere ich noch einen vor mehr als 70Jahren geschriebenen Beitrag des spanischen Kulturphilosophen Ortega y Gasset aus dessen Bestseller "Aufstand der Massen" : Spanier, Deutsche, Engländer, Franzosen sind und bleiben so verschieden, wie man nur will. ( ... ) Aber machten wir heute eine Bilanz unseres geistigen Besitzes, ( ... ) so würde sich herausstellen, dass das meiste davon nicht unserem jeweiligen Vaterland, sondern dem gemeinsamen europäischen Fundus entstammt. In uns allen überwiegt der Europäer bei weitem den Deutschen, Spanier, Franzosen."

Das wieder herauszukristallisieren und einen Beitrag dazu zu leisten, gemeinsame Antworten für die Zukunft zu gewinnen, das wünsche ich M100 und freue mich, heute hier dabei zu sein.