Redner(in): Angela Merkel
Datum: 13.09.2006

Untertitel: am 13. September 2006 in Mörfelden.
Anrede: Sehr geehrter Herr Doğan, sehr geehrte Familie Doğan, liebe Gäste, die heute extra aus der Türkei gekommen sindich habe schon einige getroffen ,meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/09/2006-09-13-rede-bkin-euro-d,layoutVariant=Druckansicht.html


Ich bin, lieber Herr Doğan, das darf ich aus Überzeugung sagen, heute sehr gerne nach Mörfelden gekommen, um gemeinsam mit Ihnen das zehnte Jubiläum des Senders "Euro D" zu feiern, und das aus verschiedenen Gründen. Wir haben in Berlin eine sehr intensive Diskussion miteinander geführt, und ich hatte den Eindruck, dass wir sehr tief gehend und sehr ehrlich miteinander gesprochen haben. Das ist für mich genau die Grundlage, auf der wir auch die Beziehungen zwischen unseren beiden Völkern aufbauen können. Ich bin Ihnen deshalb sehr dankbar, dass ich die Ehre habe, heute bei diesem zehnten Geburtstag von "Euro D" dabei zu sein.

Sie haben in diesen zehn Jahren vieles erreicht und ein Vollprogramm in einem der populärsten Fernsehsender für Türkisch sprechende Zuschauer in ganz Europa geschaffen. Das war am Anfang sicherlich nicht ganz einfach. Sie haben über politische, wirtschaftliche und soziale Fragen in allen europäischen Ländern und auch in Deutschland berichtet. Damit sind Sie so etwas wie eine Brücke in die Gesellschaften der Europäischen Union und insbesondere auch eine Brücke zwischen der Türkei und Deutschland geworden. Sie haben, so denke ich, vielen Menschen geholfen, die türkischer Abstammung sind, ihren Weg in Vereine, Gruppen und in ein Engagement für unsere Gesellschaft in Deutschland zu finden. Deshalb ganz herzlichen Dank für diese bahnbrechende Idee!

Meine Damen und Herren, wir haben

Herr Doğan hat darauf bereits hingewiesen

während der Fußball-Weltmeisterschaft ein sichtbares Zeichen dessen gesehen, was wir oft etwas abstrakt als Integration der bei uns lebenden türkischstämmigen Bürgerinnen und Bürger bezeichnen. Viele haben schon die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Moderatorin hat sich gerade erst als ein gelungenes Beispiel der Integration bezeichnet. Das ist absolut richtig. Aber dass sie das tun muss, zeigt, dass Integration immer noch keine vollständige Normalität ist. Ich möchte, dass man eines Tages nicht mehr ständig danach gefragt wird, sondern dass das Normalität in unserer Gesellschaft wird. Ich bin deshalb auch dankbar dafür, dass wir uns, glaube ich, einig in der Auffassung sind, dass die Sprache das Eingangstor zum Verstehen einer Gesellschaft ist und dass es gerade für Kinder unglaublich wichtig ist, dass sie diese Sprache im Kindergarten und dann in der Schule beherrschen und damit auch Zugang zur Bildung haben.

Sie, Herr Doğan, haben gesagt, dass es mit der Integration besser geworden ist. Ja, das ist es, und wir wollen auch die guten Beispiele zeigen. Aber für diejenigen, die keinen Anschluss an die Bildung bekommen, sind die Probleme zum Teil auch härter geworden. Der Anteil der türkischstämmigen Jugendlichen, die keinen Schulabschluss und keinen Bildungsabschluss für eine berufliche Ausbildung haben, ist immer noch höher als der von Jugendlichen deutscher Abstammung. Da ich der festen Überzeugung bin, dass Türken genauso intelligent wie Deutsche sind

ich hoffe, das gestehen Sie uns zu und sagen nicht, dass sie intelligenter sind; dann bekämen wir Streit müssen natürlich auch genau so viele Jugendliche einen Schulabschluss und einen Bildungsabschluss machen, auf die Fachhochschule und die Universität gehen. Das muss unser gemeinsames Ziel sein.

Wir haben uns jetzt in der Großen Koalition das Thema Integration vorgenommen, weil ich glaube, dass das nicht nur eine Erwartungshaltung an die zu uns Gekommenen sein darf, sondern weil dieses Thema auch ein Thema des Interesses derer ist, die schon über viele Jahrhunderte hier in Deutschland leben. Wir leben zusammen und deshalb müssen wir ein gemeinsames Interesse daran haben, dass alle in unserem Land am Wohlstand teilhaben können. Wir haben uns vorgenommen, nicht im Plenum dieses Integrationsgipfels, aber in kleinen Gruppen und sehr ehrlich über das zu sprechen, was uns beschwert, nämlich über die Fragen, ob die Mädchen genauso wie die Jungen erzogen werden, ob sie die gleichen Chancen bekommen, und über die Frage, wo man im deutschen Schulunterricht an welchen Veranstaltungen teilnimmt. Ich glaube, Offenheit ist immer die beste Möglichkeit, auch wirklich Erfolge zu erzielen.

Ich habe als erste Bundeskanzlerin das Amt der Integrationsbeauftragten im Bundeskanzleramt angesiedelt, damit ganz klar ist: Dies ist nicht Sache irgendeines Fachministeriums, sondern dies ist eine Sache, die von der politischen Führung auch immer mit vertreten werden muss. Ich bin dem türkischen Ministerpräsidenten sehr dankbar, dass er unsere Staatsministerin persönlich empfangen und mit ihr über die Themen der Integration gesprochen hat. Ich werde das natürlich bei meinem Besuch in der Türkei auch tun.

Ich glaube, dass die Medien eine ganz entscheidende Bedeutung bei der Frage der Integration haben. Die Menschen sehen sehr viel fern. Deshalb war Ihre Idee eines Fernsehsenders auch gut. Vielleicht installieren Sie bei diesem Fernsehsender auch ein kleines Fenster mit einem deutschen Programm, so, wie es eine kleine deutsche Beilage in der "Hürriyet" gibt. Ich begrüße natürlich sehr, dass Sie sich dafür entschieden haben, auch mit einer deutschen Beilage in der "Hürriyet" ein Stück weit zu zeigen, dass eben viele türkischen Ursprungs hier in Deutschland leben.

Wir haben beim Integrationsgipfel aber auch über die deutschen Medien gesprochen und darüber, was sie eigentlich für die Integration tun. Ein Schauspieler, der nicht aus der Türkei, sondern aus einem anderen Land stammt, hat z. B. einmal aus seiner Perspektive erzählt, welche Filmrollen für ihn immer ausgesucht werden. Er hat uns dann vorgeführt, welche Filmrollen er noch nie übernommen hat. Wir haben gerade in der Diskussion darüber gesprochen, wann die CDU den ersten Bundestagsabgeordneten türkischer Abstammung haben wird. Ich denke, dazu wird es kommen. Es muss bei über 2,5 Millionen deutschen Bürgern türkischer Abstammung natürlich ganz normal sein, dass wir das in der Polizei bis hin zur Bundeswehr, vielen anderen Dingen und eben auch in den Medien als Normalität empfinden. Deshalb schlage ich vor, dass Sie über die vielen Kontakte hinaus, die Sie heute schon haben, mit Ihrer Erfahrung in Form von "Euro D" vielleicht auch gerade mehr auf die Fernsehwelt zugehen und mit dem ZDF, der ARD und den einzelnen Fernsehsendern in Deutschland noch einmal in einen Dialog eintreten; denn das Fernsehen möchte niemanden beleidigen, der Zeitungen macht, aber das Fernsehen wird in den nächsten Jahren sicherlich nicht an Bedeutung verlieren - allemal nicht, wenn wir an das Internet denken.

Meine Damen und Herren, wir messen nicht nur der Frage der Integration eine große Bedeutung bei, sondern Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble hat sich auch vorgenommen, den interkulturellen Dialog und den Dialog mit dem Islam auf die Tagesordnung zu setzen. Ich sage ganz ehrlich: Sie machen es uns nicht leicht. Für Menschen katholischen Glaubens gibt es ein Rom und einen Papst, und dann ist klar, welche Interpretationen es gibt. Bei den evangelischen Christen wird es schon etwas komplizierter, aber die Lage ist immer noch überschaubar. Für uns ist es nicht einfach, sozusagen den Islam herauszufinden. Das sind Themen, über die wir sprechen müssen, wenn wir über islamischen Religionsunterricht an Schulen reden. Wir müssen auch fragen: Wer sind die Ansprechpartner? Wir werden sicherlich auch über folgendes Thema diskutieren müssen: Was sagt die Türkei dazu, wenn wir sagen, dass wir die Ausbildung der Imame für den Religionsunterricht an deutschen Schulen in Deutschland vornehmen wollen? Heute gibt es hierfür immer noch ein sehr kompliziertes Entsendesystem.

Dieser interkulturelle Dialog ist auch für uns, die wir deutscher Herkunft sind, etwas sehr Spannendes, weil wir plötzlich in der Situation sind, Menschen anderen Glaubens zu erklären, woran wir eigentlich glauben. Europa hat sich durch starke Säkularisierung doch so entwickelt, dass heute viele Menschen auch nicht mehr so sprachfähig sind, wie wir uns das eigentlich wünschen würden. Deshalb ist der Dialog mit dem Islam für uns

ich sage das für mich als Christen

auch eine große Herausforderung; nicht nur, weil wir etwas über den Islam lernen müssen, sondern auch, weil wir wieder vertreten müssen, was unseren Glauben ausmacht und welche Werte wir miteinander teilen.

Dieser Dialog ist besonders in einer Welt des Internets wichtig. Herr Burda ist hier und kann uns wunderbar davon erzählen, wie wir im Augenblick wieder einen ähnlichen Quantensprung machen, wie es ihn zur Zeit der Erfindung der Gutenbergschen Buchdruckerkunst gegeben hat. Das Internet ist eine Sache, die unsere Welt in dramatischer Weise verändert und weiter verändern wird. In dieser Welt müssen wir lernen, dass das, was wir heute miteinander bereden, in Sekundenschnelle an jeder Ecke der Welt bekannt ist, dass es dann natürlich auf ein ganz anderes kulturelles Umfeld stößt und dass die Worte, die wir hier miteinander austauschen, an anderer Stelle und in anderer Situation durchaus anders empfunden werden können. Wie das Thema Pressefreiheit

natürlich eine riesige Errungenschaft der europäischen Entwicklung

in Bezug auf den Respekt vor anderen Kulturen interpretiert werden muss, sollte vielleicht weniger die Politiker beschäftigen. Es sollte sie zwar auch beschäftigen, aber ich wünsche es mir vor allen Dingen von denjenigen, die Medien machen. Auch hierüber in einen noch stärkeren Austausch zu treten, wäre sehr interessant.

Ich werde Anfang Oktober in die Türkei fahren. Ich werde wieder intensive und, wie ich glaube, sehr gute Gespräche mit Ihrem Ministerpräsidenten führen. Wir kennen uns jetzt schon eine ganze Reihe von Jahren und wir haben es immer geschafft, freundschaftlich miteinander verbunden zu sein, selbst dann, wenn wir unterschiedlicher Meinung sind. Von mir ist bekannt, dass ich aus meiner eigenen Überzeugung und in meiner Funktion als Parteivorsitzende in Bezug auf die Türkei immer die privilegierte Partnerschaft vertreten habe. Aber ich habe ihm bei unserem ersten Gespräch auch gesagt: In Deutschland gibt es eine Regel, nämlich "pacta sunt servanda". Das heißt, wir brechen nicht mit jedem Regierungswechsel die Linien, die die deutsche Außenpolitik aufgestellt hat. Aber ich gehöre auch zu denen, die ein bestehendes Problem lieber früher benennen und nicht später Enttäuschung produzieren, weil ich heute in der Politik manchmal den Eindruck habe, dass schnell etwas versprochen wird und das Resultat anschließend viel länger auf sich warten lässt, als man denkt.

Deshalb, glaube ich, sollten wir auch ganz ehrlich darüber sprechen, dass der Weg der Türkei nach Europa nicht völlig einfach ist. Heute hat zu mir jemand gesagt: Sie sind doch Physikerin, Sie denken logisch, und Herr Hallstein hat schon Anfang der 60er-Jahre gesagt, dass eine Vollmitgliedschaft der Türkei das erstrebenswerte Ziel ist. Dann habe ich darüber gesprochen, dass sich auch die Europäische Union seitdem verändert hat, sehr viel integrativer geworden ist, aber inzwischen auch sehr viele Fliehkräfte hat. Deshalb möchte ich, dass wir unseren gemeinsamen Weg guter, intensiver deutsch-türkischer Beziehungen immer so gehen, dass wir miteinander ehrlich über die Probleme reden können. Die deutsch-türkischen Beziehungen und natürlich auch die europäisch-türkischen Beziehungen sind von allergrößtem Wert für die Gestaltung der Welt des 21. Jahrhunderts.

Ich habe telefonisch vielfach mit Ihrem Ministerpräsidenten über den Libanon-Konflikt gesprochen, und ich bin sehr dankbar, dass unsere beiden Länder jetzt sagen können: Wahrscheinlich werden sich deutsche und türkische Soldaten

das türkische Parlament hat schon entschieden

bei der Bewältigung eines der kompliziertesten Konflikte auf der Welt, nämlich im Nahen Osten, gemeinsam in einer UN-Mission engagieren. Das, finde ich, ist ein ganz wichtiges Signal, nämlich dass wir dort, wo Probleme auftreten, gemeinsam agieren und dass wir im gegenseitigen Interesse miteinander kooperieren. Was die wirtschaftlichen Verflechtungen anbelangt, darf ich Ihnen sagen, sind wir von deutscher Seite aus natürlich auf Ihre Wachstumsraten neidisch. Und wir können dabei auch manches von dem beherzten Weg der Türkei lernen, denn in Deutschland sind wir manchmal etwas langsam geworden.

In diesem Sinne danken wir Ihnen ganz herzlich, dass Sie mit Ihrer Unternehmenskraft hier in Deutschland Pflöcke eingeschlagen haben, erfolgreich sind, und das noch dazu in einem Bereich, der unglaublich viele Menschen erreicht. Herzlichen Dank, dass ich hier sein darf. Und Ihnen als Doğan-Gruppe alles Gute auf Ihrem Weg in die Zukunft.