Redner(in): Angela Merkel
Datum: 18.09.2006

Untertitel: am 18. September in Berlin
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/09/2006-09-19-rede-bkin-60-jahre-vertreibung,layoutVariant=Druckansicht.html


Sehr geehrter Herr Fromme,

liebe Kollegen aus dem Deutschen Bundestag,

werte Gäste dieser Veranstaltung,

ich möchte mich sehr herzlich bedanken für die Einladung zu dieser Veranstaltung der CDU / CSU-Bundestagsfraktion. Über 60 Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen, 60 Jahre auch seit dem Beginn von Flucht und Vertreibung von etwa 14 Millionen Deutschen. Sie mussten ihre vertraute, angestammte Heimat verlassen. Viele von ihnen hatten unermessliche Strapazen auf der Flucht in eine völlig ungewisse Zukunft zu erleiden. Hunger, Vergewaltigungen und Seuchen waren an der Tagesordnung. Und etwa zwei Millionen Menschen überlebten Flucht und Vertreibung nicht.

Des Schicksals dieser Menschen zu gedenken, ist ein wichtiger Teil unserer deutschen Identität. Gelingen, und zwar im Geiste der im Titel der Veranstaltung genannten Versöhnung, kann ein solches Gedenken aber nur, wenn wir die Ursache dieses Leides nie aus den Augen verlieren. Ohne den Nationalsozialismus mit seinen unermesslichen Verbrechen, Kriegsleiden und Zerstörungen hätte es die Vertreibung der Deutschen nach 1945 nicht gegeben. Aus diesen singulären Verbrechen erwächst eine immerwährende Verantwortung für uns als Deutsche. Im Bewusstsein dieser Verantwortung hat jede Bundesregierung seit 1945 Politik für Deutschland gestaltet. Und aus diesem Bewusstsein entsteht genau der Geist der Versöhnung, ohne den ein angemessenes, ein würdiges Gedenken auch des erlittenen Leids von Flucht und Vertreibung nicht möglich ist und ohne den vor allem eine gemeinsame Zukunft in einem friedlichen Europa nicht möglich wäre.

Deshalb sage ich an dieser Stelle ebenso kurz wie klar: Die Bundesregierung wendet sich gegen die jüngsten Versuche der Preußischen Treuhand, über den Klageweg Eigentumsrestitutionen durchzusetzen.

Meine Damen und Herren,

ich begrüße es sehr, dass die CDU / CSU-Bundestagsfraktion heute hier an die Geschichte der Heimatvertriebenen, deutschen Spätaussiedler und deutschen Minderheiten erinnert. Es ist unsere Aufgabe, die Erinnerung an Flucht und Vertreibung für künftige Generationen lebendig zu halten. Denn damit verbunden sind auch heute noch zentrale Fragen des Zusammenlebens in Europa. Und dabei geht es zunächst einmal um ein Geschichtsverständnis, das einen Grundsatz kennt und dieser ist so einfach wie wahr: Wer keine Herkunft hat, hat keine Zukunft. In Christoph Heins Roman "Landnahme" stellt der junge Vertriebene Bernhard, als ihn sein Lehrer korrigiert, er käme doch nicht aus Breslau, sondern aus Wroc? aw, kurz und bündig fest: "Aber geboren bin ich in Breslau." Der Junge akzeptiert mit diesem einen Satz die neue Realität und betont seine Herkunft als einen Teil seiner Lebensgeschichte.

Erinnerung zulassen, Zukunft im Bewusstsein immerwährender Verantwortung der Vergangenheit gestalten das ist der Boden für Versöhnung und Frieden. Das übrigens war auch der Impuls, der unsere politischen Vorfahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bewogen hat, sich für die Idee der europäischen Einigung einzusetzen. Europa als Friedensgemeinschaft das war die Antwort auf so genannte Erbfeindschaften, auf Nationalismus, Krieg, Vertreibung und Gewalt. In diesem Geist denken wir auch heute "auch" sage ich ganz bewusst an die vor 65 Jahren deportierten Russlanddeutschen. Sie mussten aufgrund des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets von 1941 ihre Heimat verlassen. Viele von ihnen kamen in den Arbeitslagern Sibiriens und Mittelasiens um. In diesem Geist gedenken wir auch der deutschen Minderheiten und Volksgruppen in unseren Nachbarländern, die Diskriminierungen hinnehmen mussten.

Meine Damen und Herren,

die heutige Veranstaltung trägt den Titel "60 Jahre Vertreibung 60 Jahre Wege zur Versöhnung". Die Vertriebenen sind den Weg zur Versöhnung gegangen. Schon die am 5. August 1950 in Stuttgart verkündete Charta der deutschen Heimatvertriebenen war ein Dokument der Versöhnung. Die Charta war mit ihrem Bekenntnis zu einem geeinten Europa und dem Verzicht auf Vergeltung eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg der heutigen Europäischen Union. Theodor Heuss nannte sie "ein Dokument der Weisheit und des Mutes". Dieses Zeichen war umso höher zu bewerten, wenn man sich die Situation der Vertriebenen im Deutschland dieser Zeit einmal vergegenwärtigt. Die Vertriebenen und Flüchtlinge kamen in ein zerstörtes Land, sie standen vor dem Nichts; genau wie diejenigen, die sie aufnahmen. Die gesamte Situation barg einen enormen sozialen Sprengstoff. Die nachfolgende erfolgreiche Integration zählt zu den großen Errungenschaften der Nachkriegspolitik der Bundesrepublik Deutschland. Entwurzelt zu werden und dennoch die Kraft aufzubringen, sich

mit Zuversicht in ein neues gesellschaftliches Umfeld einzubringen; das ist das muss man im Rückblick sagen eine, glaube ich, gar nicht hoch genug einzuschätzende Leistung, die damals vollbracht wurde, was aber damals vielleicht, wenn man sich die Erzählungen anhört, gar nicht so gesehen wurde.

Die Heimatvertriebenen haben Werte in die junge Bundesrepublik eingebracht Werte, die unser Land entscheidend geprägt haben. Ohne das Bekenntnis zur Leistung, die Bereitschaft zur Anstrengung, sich etwas ganz Neues aufzubauen, wäre der Wiederaufbau Deutschlands nicht gelungen. Diese Verdienste der Heimatvertriebenen bleiben unvergessen; sie behalten einen festen Platz in der deutschen Geschichte.

Ganz klar: Die Geschichte der Heimatvertriebenen in Deutschland ist ein herausragendes Beispiel für gelungene Integration. Viele Bundesregierungen haben einen erheblichen Beitrag dazu geleistet vorneweg die von Bundeskanzler Konrad Adenauer. Der Lastenausgleich in der Bundesrepublik aus dem Jahre 1952 verbesserte zweifellos die Startchancen der Vertriebenen. Noch wichtiger war aber seine psychologische Wirkung. Die Vertriebenen mussten sich fortan nicht mehr als Bittsteller und Bürger zweiter Klasse fühlen. Sie gestalteten ihr Leben in der Gesellschaft mit großer Energie und hatten erheblichen Anteil am so genannten Wirtschaftswunder der Bundesrepublik Deutschland. Auch politisch und das ist alles andere als selbstverständlich gewesen haben sich die Vertriebenen vollständig integriert. Sie engagierten sich in den politischen Parteien. Abschottung oder Radikalisierung blieben weitestgehend aus. Auch das ist ein Verdienst der Organisationen, die sie vertreten haben.

Ganz anders auch daran ist gerade an diesem Ort zu erinnern war die Lage der Vertriebenen in der damaligen DDR. Hier blieb das Thema "Flucht und Vertreibung" aus der Öffentlichkeit verbannt. Die Gründung landsmannschaftlicher Organisationen wurde den dort lebenden vier Millionen Vertriebenen untersagt. Erst ab den 70er Jahren gab es Erleichterungen. Seither konnten die Bürger der DDR leichter in die östlichen Nachbarländer reisen, um ihre alte Heimat zu besuchen. Dort erfuhren sie häufig eine positive Aufnahme, die Versöhnung ermöglichte. Die Menschen, die dort lebten, waren nicht selten selbst Vertriebene etwa aus der heutigen Ukraine und aus Weißrussland. Ich denke, es gehört auch zu den guten Folgen der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes, dass die damaligen in der DDR lebenden Vertriebenen seit 1989 nunmehr ohne Angst über das ihnen widerfahrene Leid sprechen können. Manchmal ist es doch auch nur das, was man sich wünscht: Nicht schweigen zu müssen, Verständnis für ein eigenes Lebenstrauma zu haben, trauern zu dürfen.

Meine Damen und Herren,

von Beginn an haben die in der alten Bundesrepublik lebenden Vertriebenen die Kontakte in die alte Heimat aufrechterhalten. Vor allem seit Ende der 80er Jahre haben sie sie auch sehr stark und mit viel Engagement und Gefühl ausgebaut. Die zahlreichen Kontakte der Vertriebeneninitiativen nach Polen und Tschechien, in die Slowakei, nach Slowenien und Ungarn und das gemeinsame Bemühen um eine Bewahrung des Kulturerbes sind ein sehr, sehr wertvolles Zeichen ein Zeichen der Versöhnungsbereitschaft. Ich habe mir heute von ungarischer Seite erzählen lassen, dass dies auch noch einmal dokumentiert wurde. Herzlichen Dank dafür.

Die Vertriebenen haben mit vielen ehrenamtlichen Initiativen im Großen und im Kleinen einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass es heute ein geeintes Europa ohne trennende Grenzen gibt. Oft hat der Bund sie dabei finanziell unterstützt. Aber vieles haben sie auch ganz ohne staatliche Unterstützung getan. Für dieses Engagement möchte ich allen, die dabei sind und dabei waren, ein ganz herzliches Dankeschön sagen.

Auch um die Unterstützung der Integration von Spätaussiedlern haben sich die Vertriebenen verdient gemacht ich weiß um die Verdienste, liebe Frau Steinbach. Und im Verhältnis Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn finden sich viele, viele Beispiele der Verständigung. Ich möchte in dem Zusammenhang auch an den gerade schon erwähnten Briefwechsel der deutschen und polnischen Bischöfe 1965 erinnern oder an das Engagement der ökumenischen Aktion "Sühnezeichen". Ich möchte heute auch an jemanden erinnern, der über viele Jahrzehnte Brückenbauer bei der Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn war: An Herbert Hupka, der kürzlich verstorben ist. Er war nicht immer bequem, ohne Zweifel; aber ebenso unmissverständlich in einem: Ganz bewusst hat er seinen Blick nicht nur auf das eigene Leid und die Vergangenheit gerichtet, vielmehr hat er stets auch einen politischen Auftrag an Gegenwart und Zukunft formuliert. Sein Markenzeichen war die ausgestreckte Hand. Deshalb werden wir Herbert Hupka immer ein ehrendes Gedenken bewahren.

Meine Damen und Herren,

Vertreibungen sind leider keine überwundenen Ereignisse der Geschichte wir haben immer wieder darüber gesprochen und tun es auch heute; vielmehr sind sie auch heute und in der jüngsten Geschichte von erschreckender Aktualität. Wir kennen die Nachrichten aus Den Haag, wo die internationale Staatengemeinschaft versucht, die Verantwortlichen für ethnische Säuberungen im ehemaligen Jugoslawien zur Rechenschaft zu ziehen. Um ein weiteres Beispiel von vielen, vielen anderen zu nennen: Wir kennen auch die schlimmen Bilder aus Darfur, wo wieder Menschen Opfer von Gewalt und Vertreibung geworden sind. Es geht also um die Verbindung von Geschichte und Gegenwart. CDU und CSU haben sich vor diesem Hintergrund stets für die Idee eines Zentrums gegen Vertreibungen eingesetzt. Auch die neue Bundesregierung bekennt sich zur gesellschaftlichen und historischen Aufarbeitung von Zwangsmigration, Flucht und Vertreibung. Dafür wollen wir, so steht es in unserer Koalitionsvereinbarung, im Geist der Versöhnung ein sichtbares Zeichen setzen.

Meine Damen und Herren,

Dokumentation, Vernetzung und Versöhnung werden zentrale Aspekte dieses sichtbaren Zeichens sein, das an einem angemessenen Ort in Berlin gesetzt werden soll. Es soll ein Zeichen zur Ächtung jeglicher Vertreibung und ethnischer Säuberung europa- und weltweit werden das ist unsere Verantwortung, die aus unserer Geschichte erwachsen ist. Ich könnte mir vorstellen und es würde mich freuen, wenn es gelänge, dies auch in Verbindung mit dem europäischen Netzwerk "Erinnerung und Solidarität" zu gestalten.

Meine Damen und Herren,

60 Jahre Wege zur Versöhnung sind ein langer, nicht immer einfacher, aber erfolgreicher und vor allen Dingen ein lohnender Weg. Wir haben in dieser Zeit die feste Verankerung Deutschlands in Europa erreicht. Deutschland lebt in Frieden, Freiheit und Freundschaft mit seinen Nachbarn. Gemeinsam arbeiten wir an einem bürgernahen, werteorientierten und handlungsfähigen Europa. Nach 60 Jahren politischer Versöhnungsarbeit sind wir noch nicht am Ziel; das können wir auch gar nicht sein, denn Versöhnung, Partnerschaft und Frieden sind ein immer währender Prozess. Aber erreicht haben wir sehr viel. Darauf behutsam weiter aufzubauen, ist unsere gemeinsame Aufgabe. Ich danke denen, die Vertreibung erlebt und erfahren haben und denen, die sie in ihrer Familiengeschichte enthalten haben, ganz herzlich für ihr Engagement auf diesem Weg. Wir werden dies politisch begleiten.

Herzlichen Dank.